Ein filmisches Monument für den Hamburger Hafen. Solch ein Monument will der NDR-Dokumentarfilm mit dem Titel „Gigant des Nordens: Hamburgs Aufstieg zum Welthafen“ schaffen. Am Samstag wurde er vom Kultursender Arte zur Primetime ausgestrahlt. Der mit 3D Animationen und fiktiven Inszenierungen aufschneidende Kostümfilm erzählt die Geschichte des Hamburger Hafens als Erfolgstory. Trotz der Verwendung von Archivmaterial und Experteninterviews ist die 88-minütige Dokumentation kaum mehr als ein unterhaltsames Doku-Drama. Der oft pathetische Stil ist zwar identitätsstiftend, aber er hilft kaum, den Aufstieg des Hamburger Hafens historisch zu erklären. Denn diese Erklärung ist global und zu einem guten Teil auch kolonial. Statt globale Beziehungen und koloniale Konsequenzen deutlich herauszustellen, endet das Erklärungspotenzial des Films meist an der Elbmündung. Etwas mehr Anspruch dürfte man dem Fernsehpublikum des 21. Jahrhunderts sicherlich zumuten.
Die Eingangsszene bildet die Vision eines weitgereisten Grafen, der im 12. Jahrhundert zwischen Alster und Elbe steht. Anstatt der von aristokratischen Herrschern vernachlässigten Wildnis sieht er einen prosperierenden Hafen vor sich. Seine Prophezeiung erfüllt sich, weil tatkräftige Hamburger Bürger einen Hafen bauen, der durch eine (gefälschte) Urkunde von Kaiser Barbarossa mit allerlei Handelsprivilegien ausgestattet wird. Die Stimme aus dem Off fasst diesen Gründungsmythos aphoristisch zusammen: „Tüchtigkeit ist nun wichtiger als Abstammung“.
Im 13. Jahrhundert wird Hamburg Mitglied der Hanse und institutionalisiert darin seine kommerzielle Überlegenheit im nördlichen Europa. Organisationsgeschick, Buchhaltung und Navigationstechnik werden perfektioniert. Dank Hamburg herrschen klare Regeln, erklärt der Kommentator. Diese Ordnung wird lediglich durch „Seeräuber“ bedroht, welche im Film überkarikiert und wie in einem billigen Spielfilm daherkommen: langhaarig, ungepflegt, zahnlückig und bedrohlich. Spätestens hier drängt sich der Eindruck auf, dass der Film kaum ein Klischee über die Stadt in der Schublade lässt. „Der Hafen ist ein Geschäft“ belehrt uns der Hintergrundkommentar, als ob wir es noch nicht wüssten.
Die Nüchternheit der Fakten bietet dann eine willkommene Erholung vom Pathos der Klischees. Hamburg produziert und handelt vorrangig mit Bier, dazu kommen Pelze und Wachs aus Nowgorod, Getreide aus dem Hinterland, Pfeffer und Tuche aus Übersee und Salz aus Lüneburg. Mit der „Entdeckung“ Amerikas verliert der Ostseehandel jedoch an Bedeutung. Die Hanse ist ruiniert, bemerkt der Sprecher, aber Hamburg eilt trotzdem von Erfolg zu Erfolg. Die Hamburger passen sich an den neuen Handel mit Kolonialwaren aus Amerika an und importieren unter anderem auch Baumwolle, Seide, Tee, Kaffee und Tabak.
An dieser Stelle geht der Film kurz auf die negative Seite des Erfolges ein: der Handel macht wenige Hamburger reicher, während die meisten von ihnen in bitterer Armut leben. Ein Teil der westlichen Welt bereichert sich mit Hilfe von Sklaverei und Kolonisierung. Allerdings betont der Kommentator im gleichen Satz, dass „die Hamburger selbst keine Kolonien hatten.“
Stattdessen, so scheint es, macht Napoleon Anfang des neunzehnten Jahrhunderts Hamburg selbst zu einer Kolonie, indem seine Truppen es besetzen und eine Kontinentalsperre errichten. Laut den Drehbuchautoren, die nur von der Besatzung durch „die Franzosen“ sprechen, blieb diese Periode „in schrecklicher Erinnerung“. Um solche Aussagen wenigstens etwas zu relativieren wird ein Expertenkommentar von Prof. Helmut Stubbe da Luz zugeschnitten. Er wendet ein, dass die napoleonische Kontinentalsperre Hamburg weniger schadete als oft angenommen, und dazu eine Modernisierung des Rechts mit sich brachte.
Im neunzehnten Jahrhundert nach Napoleon wird der Hafen stetig effizienter und schließlich zum schnellsten Verladehafen der Welt. Nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 trennt man den Hafen zudem verwaltungstechnisch von der Stadt und erklärt ihn für zollfrei. Die seit den 1880er Jahren erbaute Speicherstadt wird zum Symbol dieser Reform. Hier lagern Produkte aus europäischen Kolonien, wie Kakao, Bananen, Gewürze und Kaffee.
Kurioserweise erwähnt der Film an dieser Stelle mit keinem Wort, dass Deutschland selbst Kolonien besaß und dort Kolonialprodukte ausbeutete. Die Beteiligung von Hamburger Reedern und Kaufleuten am Kolonialerwerb wird ebenso ausgeblendet, wie deren Rolle in gewaltsamen Kolonialkriegen. Dagegen zeigt die Regie anschaulich das Leben der europäischen Auswanderer, die über Hamburg in die Neue Welt reisten. Ihr Schicksal wird mit demjenigen der heutigen Flüchtlinge gleichgesetzt. Aber schnell, und in widersprüchlicher Weise, wird die Rolle von Auswanderungsgewinnlern wie Albert Ballin in eine Hamburger Erfolgsgeschichte umgeschrieben. Ballin, so scheint es, habe die Transportbedingungen für Auswanderer humaner gemacht und gleichzeitig die Kreuzschifffahrt auf Luxuslinern eingeführt.
Auch der Fluchtpunkt der aggressiven Weltpolitik von Wilhelm II sind nicht die Kolonien, sondern der innereuropäische Erste Weltkrieg. Die deutsche Flottenrüstung, welche den Hamburger Werften Millionenaufträge einbrachte, wird im Film nur von der europäischen Perspektive aus analysiert. Die koloniale Zielrichtung und die Beteiligung der deutschen Marine an Kolonialkriegen scheinen dabei irrelevant zu sein. Keine Erwähnung finden die Auswirkungen auf die Kolonisierten und die Beteiligung von Hamburgern am brutal geführten so genannten Boxer-Aufstand in China oder die Entsendung von Truppen aus dem Hamburger Hafen, welche einen Genozid an den Herero und Nama in Deutsch-Südwest Afrika verübten.
Indessen tritt ein weiterer Held Hamburgs auf: Der Tropenmediziner Bernhard Nocht, dem der Film eine herausragende Rolle bei der Seuchenprävention und Eindämmung der Cholera in Hamburg zuschreibt. Verschwiegen wird dabei, dass er als Mitglied im Alldeutschen Verband und im Reichskolonialbund ein führender Vertreter der deutschen Kolonialpropagandisten und –revisionisten war. Die Gründung des Tropenmedizinischen Instituts in Hamburg, wie auch seine Studienreise nach Deutsch-Ostafrika in den Jahren 1911/12 hatten das langfristige Ziel, weißen Kolonialherren den Aufenthalt in den Tropen zu ermöglichen und so koloniale Herrschaft zu sichern. Der tropenmedizinische Beitrag zum Erhalt und Ausbau europäischer Kolonialreiche wird im Film nicht erwähnt.
Die Zeit nach dem ersten Weltkrieg wird schnell abgehandelt. Weltkrieg, Weltwirtschaftskrise und noch ein Weltkrieg sind kein Hindernis, Hamburg wieder zur kommerziellen Weltmacht zu machen. Dieser Erfolg wird gefeiert und im Schlusssatz noch einmal pathetisch überwölbt: „Der Aufstieg Hamburgs zum Welthafen begann vor über 800 Jahren mit einer Vision. Er gelang mit Härte und Fleiß, mit Mut und viel Arbeit, und- mit der ein oder anderen List“. Dass die Opfer des Aufstiegs auch außerhalb Hamburgs gebracht wurden, wird im Film kaum erwähnt. Das Leiden der Bevölkerung in den Kolonien war ein Grund für die Profite der Hamburger. Dass sie nicht erwähnt werden, ist nicht nur bedauerlich, sondern auch ein methodischer Fehler. Denn ohne Rücksicht auf globalgeschichtliche Multikausalität kann ein Phänomen wie die Entwicklung Hamburgs zur Hafenstadt gar nicht erklärt werden.
Auch wenn sich der Film „Gigant des Nordens“ an ein größeres Publikum wenden soll, bleibt er hinter den Ansprüchen der Zuschauer des 21. Jahrhunderts zurück. Arte hat schon anspruchsvollere Dokumentationen gezeigt. Und Hamburg hat mehr verdient als ein paar stammtischtaugliche Klischees. Sicherlich mussten die Drehbuchautoren eine Auswahl treffen, und Schwerpunkte setzen. Die Erzählzeit des Films kann sich nicht mit den 800 Jahren erzählter Zeit decken. Aber den kolonialen Kontext komplett zu ignorieren, ist fahrlässig – besonders wenn kitschige Kostümszenen abgewogener Information die Sendezeit stehlen.
Hamburg ist dabei, sich seiner kolonialen Vergangenheit zu stellen und ist hierin schon weiter als der Fernsehfilm „Gigant des Nordens“ glauben macht. Die Einbeziehung der Kolonialzeit ist nötig, um die Geschichte Hamburgs insgesamt zu verstehen und zu erklären. Dies ist aber nicht nur Aufgabe der Historiker, sondern auch der Wunsch einer Stadt, die nicht die Augen vor dem schwierigeren Teil der Geschichte verschließt. Insofern ist der Selbstbestätigungsstreifen „Gigant des Nordens“ aber tatsächlich ein filmisches Monument: er ist ein Denkmal, das für die lückenhafte und unzureichende Erinnerungspolitik einer vergangenen Epoche steht.
Florian Wagner
Gigant des Nordens, eine gigantische Verklärung? – Nachbetrachtung zur filmischen Dokumentation über den Aufstieg des Hamburger Hafens von Florian Wagner ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell 4.0 International Lizenz.