Ein Bericht von Myriam Gröpl und Sara Capdeville (Universität Hamburg)

Provenienzforschung zu ethnologischen Sammlungen mit kolonialen Hintergründen gerät zunehmend in den Fokus kunsthistorischer, kolonialhistorischer und ethnologischer Forschung. Neben Fragen der Ausstellungsgestaltung und Sammlungszusammenstellung wird vor dem Hintergrund von Herkunfts- und Rückgabefragen auch die Legitimität europäischer Völkerkundemuseen diskutiert. Die Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe“ geht aktuell in zwei umfangreichen Forschungsprojekten diesen und anderen Problemstellungen nach: Im Bremer Überseemuseum untersuchen drei Doktorand*innen, finanziert von der Volkswagenstiftung, die konkrete Provenienz der Sammlungen aus Namibia, Tansania und Kamerun. Ab Oktober 2017 nehmen drei weitere Promovierende ihre Arbeit in diesem Feld auf und erforschen, großzügig gefördert von der Gerda-Henkel-Stiftung, in Hamburg und Nigeria Provenienz und Wirkungsgeschichte der bekannten „Benin-Bronzen“.

Seit April 2016 erforschen das Linden-Museum, das Asien-Orient-Institut und das Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaften Tübingen in einem gemeinsamen Forschungsprojekt Möglichkeiten im museologischen und wissenschaftlichen Umgang mit kolonialzeitlichen Objekten in ethnologischen Museen. Aus diesem Anlass fand am 24. April die Tagung „Schwieriges Erbe. Koloniale Objekte – Postkoloniales Wissen“ in Stuttgart statt. Zwei Wochen zuvor waren bereits ähnliche Themen im Münchener Fünf-Kontinente-Museum  im Rahmen der Tagung „Provenienzforschung zu ethnologischen Sammlungen der Kolonialzeit“ beleuchtet worden.

Foto: Linden-Museum Stuttgart, © Benjamin Gollasch

Die Stuttgarter Tagung sollte in interdisziplinärer Perspektive zentrale Fragen aktueller Debatten um ethnologische Museen und ihren Umgang mit kolonialen Sammlungsbeständen thematisieren: „Wie arbeitet man mit Objekten aus der Kolonialzeit im Museum? Welches Wissen haben diese Objekte und wie lässt es sich ausstellen? Und was sagen sie über unsere gegenwärtige Gesellschaft?“[1] Die internationale Besetzung der Panels versprach eine Vielfalt an Perspektiven auf den Umgang mit kolonialen Sammlungen in ethnologischen Museen.

Die Provenienz kolonialer Objekte in europäischen Museen ist in der Regel zunächst ungeklärt. So wurden die Sammlungsgegenstände teilweise unter fragwürdigen Umständen aus den ehemaligen deutschen Kolonien ausgeführt. Ausgehend von dieser unklaren Wissensbasis, widmet sich das Kooperationsprojekt der Universität Tübingen und des Linden-Museums den kolonialen Sammlungen des Stuttgarter Museums. Aktuellen Forschungstrends folgend beschäftigt sich das Projekt auch mit dem zukünftigen Umgang mit diesem „schwierigen Erbe“, das juristische wie auch ethische Fragen aufwirft. Auch Fragen der Darstellung kolonialer Strukturen in der Bildungsinstitution des Museums soll nachgegangen werden.

Warum Herkunft und Geschichte der Sammlungen aus ehemaligen Kolonien gerade heute in Deutschland von Relevanz sind, thematisierten GABRIELE ALEX (Tübingen) und THOMAS THIEMEYER (Tübingen) sowie Museumsdirektorin INÉS DE CASTRO (Stuttgart) in der Eröffnung. Thiemeyer stellte die These auf, postkoloniale Debatten seien mittlerweile in Forschung und Museumsarbeit angekommen und führten so zu einem Umdenken. Außerdem führe die Pluralisierung der deutschen Erinnerungskultur zu einem wachsenden Problembewusstsein in Bezug auf kolonialhistorische Erinnerungsmuster.

JAN HINRICHSEN und GESA GRIMME skizzierten die Projektarbeit mit kolonialzeitlichen Objekten im Linden-Museum Stuttgart, in dem Provenienzen der Sammlungen aus Namibia, Kamerun und dem Bismarck-Archipel erforscht wird. Dabei solle Aspekten der direkten Objektforschung nachgegangen werden, um die Materialität dieser Geschichte(n) hervorzuheben. Außerdem sollen anhand von Sammlungsprofilen einzelner Objektgeber Fragen nach der Legitimität des Besitzes, nach Strukturen kolonialer Weltaneignung, der Musealisierung der Kolonien sowie nach der Fachgeschichte der Ethnologie aufgegriffen werden. Damit geht das Stuttgarter Projekt, wie auch die bereits genannten Hamburger bzw. Hamburg-Bremer Projekte, in seinen Ansprüchen über die Forschungsmethoden klassischer Provenienzforschung hinaus, indem auch strukturelle Bedingungen des kolonialen Forschens und Sammelns einbezogen werden sollen.

 

Kolonialismus erinnern/vergessen – postkoloniale Gesellschaften

Zum Einstieg widmete sich das erste Panel den Entwicklungen und aktuellen Diskursen um kolonialhistorische und postkoloniale Themenkomplexe vor allem in der deutschen sowie der US-amerikanischen Gesellschaft. Damit näherten sich die Beiträge den Fragen nach der Teilhabe an öffentlichen Diskursen sowie der Aufarbeitung von Kolonialgeschichte. Diese Bestandsaufnahme aktueller Diskussionen und ihrer historischen Entwicklung eröffnete ANDREAS ECKERT (Berlin) mit einem Überblick über Deutschland und den Kolonialismus seit dem Ersten Weltkrieg.  Er betonte, dass die zentrale Rolle des Kolonialismus für die deutsche Geschichte nach wie vor umstritten sei. Anders als in Nationen mit einer länger andauernden formalen Kolonialherrschaft habe in einer scheinbar homogenen deutschen Gesellschaft nach 1945 keine direkte Begegnung mit Minderheiten aus den ehemaligen Kolonien stattgefunden, so dass auch die Geschichte(n) der Kolonialzeit nicht eingefordert wurde(n). Daran anschließend forderte Eckert vor allem eine Ergänzung bisheriger Geschichtsschreibung durch postkoloniale Perspektiven, um eine umfassendere Analyse struktureller und materieller Bedingungen historischer Phänomene zu bieten – auch, weil „koloniale Mindsets“ weit über die formale Kolonialherrschaft hinaus wirkmächtig bleiben. Hier leistet die Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe“ einen ersten Beitrag. Von einer Institutionalisierung solcher Projekte kann in der deutschen Forschung allerdings noch nicht gesprochen werden.

Im Anschluss präsentierte ERIC GABLE (Washington) eine US-amerikanische Perspektive. Er kritisierte den in den USA verbreiteten emotionalen Zugang zu postkolonialen Diskursen: Indem eine sentimentale Identifikation mit den Kolonisierten stattfindet, werden politische und wirtschaftliche Aspekte dieser Diskurse ausgeblendet und eine Aufarbeitung verhindert. Dabei müssten postkoloniale Ansätze die Bemühungen aus Wissenschaft und zivilen Gruppen gleichermaßen kombinieren, um gemeinsam ein gesellschaftliches Bewusstsein für die Aufarbeitung kolonialhistorischer Themen zu schaffen.

In ihrem Kommentar zum Abschluss des Panels problematisierte MONIQUE SCHEER (Tübingen) die Dissonanz, die aktuelle wissenschaftliche Bemühungen zur Aufarbeitung des Kolonialismus präge. Einerseits würden Kollektividentitäten dekonstruiert, während andererseits rassistisch aufgeladene Strukturen und Effekte analysiert würden, die auf der Annahme eben jener Identitäten beruhten. Dieser vermeintliche Widerspruch aktueller Forschung kann allerdings durch eine Historisierung der untersuchten Phänomene aufgelöst werden. Während Kollektivzuschreibungen aus wissenschaftlicher Sicht nicht haltbar sind, konnten und können sie dennoch in spezifischen historischen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontexten wirkmächtig werden, so dass eine Untersuchung notwendig ist, um die sehr realen wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen solcher konstruierten Identitäten angemessen analysieren zu können.

In der anschließenden Diskussion wies Eckert erneut darauf hin, dass postkoloniale Diskurse noch nicht weitreichend rezipiert werden und eine breite Dissemination dringend vorangetrieben werden muss. Zusätzlich seien hier oft die Rahmenbedingungen sowie finanzielle Förderung der Vorhaben in ungesundem Maße von einer Finanzierung durch Drittmittel abhängig, so dass eine ausreichende Erforschung und kritische Reflektion erinnerungsstiftender Geschichtsmomente noch ausstehe. Das Forschungsfeld musealer Sammlungen bietet sich hier besonders an: Durch ihre Präsenz im Stadtbild und als nach wie vor bestehende Institutionen kann die Notwendigkeit einer historischen Aufarbeitung der Sammlungs- und Institutionsgeschichte unter Berücksichtigung der kolonialen Prägung öffentlichkeitswirksam vermittelt und an konkreten Beispielen festgemacht werden.

 

Kolonialismus bewahren/zeigen – postkoloniale Museen

In seinem Vortrag stellte PHILIPP SCHORCH (München) vor allem die Rolle von Kurator*innen in den Mittelpunkt. Schorch präsentierte das Konzept eines „Co-Curators“ vor. Dies sei besonders bedeutsam für die unmittelbare Arbeit im Museum, indem ein indigener Co-curator  mit seinem/ihrem Wissen die Arbeit der/des Museumskurators/in ergänzt. Außerdem betont wurde die zentrale Bedeutung einer „geteilten Geschichte“ und eines damit verbundenen multiperspektivischen Ansatzes, der unter anderem folgende Fragen aufwerfe: Wie kann Wissen im transkulturellen Kontext gemeinsam generiert werden? Was können wir von Museologen aus dem Ausland lernen? An dieser Stelle lieferte die Tagung geeignete Ansatzpunkte für vertiefte Diskussionen und die weitere Forschung: Die Einführung einer Praxis des Ko-Kuratierens kann einen erster Teilschritt der Praxis einer geteilten Geschichte darstellen. Grundlagenforschung zu Museums-, Objekt- und Sammlungsgeschichten muss diesem praktischen Ansatz zur Seite gestellt werden, um die vielfältigen Schichten historischer Bedeutungen innerhalb der Sammlungen und des sie umgebenden Beziehungsgeflechts aufzudecken.

CIRAJ RASSOOL (Kapstadt) forderte anschließend eine neue Bedeutungszuschreibung für postkoloniale Museen, um auch einen gegenwärtigen Raum aus ethnologischen oder anthropologischen Museen zu machen. Die Fragen, wie und ob es ein postkoloniales Museum geben kann, bildeten den Schwerpunkt seines Vortrages. Als unmittelbare institutionelle Form des europäischen Kolonialismus habe das ethnologische Museum, mithilfe wissenschaftlicher Praxen des Sammelns, Dokumentierens, Klassifizierens und Repräsentierens, Kategorien wie „Rasse“ und das damit einhergehende „Rassendenken“ geprägt. Deshalb müsse im postkolonialen Museum jenseits der kolonialen Repräsentationsformen gearbeitet werden und koloniale Ordnungsmodelle dekonstruiert werden. Rassool kritisierte dass vor allem unter Museolog*innen herrschende „Syndrom des Bewahrens“ und betonte die akribische, beinahe besessene Arbeit des Bewahrens und Kategorisierens von Sprachen und Objekten im Museum. Insgesamt plädierte Rassool für die Notwendigkeit eines politisches Engagements, das durch den Dialog die Darstellung neuer Perspektiven sowie eine Erweiterung der Expertise ermöglichen würde, um sich so einem postkolonialen Museumsmodell anzunähern.

Foto: Tagung „Schwieriges Erbe“ im Linden-Museum, © Benjamin Gollasch

Die abschließende Podiumsdiskussion griff vor allem die Frage nach den Konsequenzen der vorangegangenen Vorträge für eine zukünftige Museumspraxis auf. DJENNEBA OBOT (Hamburg) und EKARIKA OBOT (Stuttgart) wiesen wiederholt darauf hin, dass die aktuelle Museums- und  Ausstellungspraxis bisher keineswegs als dekolonial bezeichnet werden kann. Die Veranstaltungsreihe der „Jungle Nights“ in Hagenbecks Zoo sei beispielhaft für eine Tradition kolonialer Ausstellungspraxis, die auch heute noch den Völkerschauen gleicht.

SANDRA FERRACUTI (Stuttgart) betonte die erfolgreiche Zusammenarbeit des Linden-Museums mit den sogenannten „Herkunftsgesellschaften“ der jeweiligen Sammlungen und die daraus resultierende Praxis der „shared history“. Wie genau diese geteilte Geschichte umgesetzt werden kann und auch in Zukunft eine Beteiligung verschiedenster Gruppen am Museum gewährleisten kann, blieb in der folgenden Diskussion allerdings offen. Die konkrete Umsetzung einer geteilten Geschichte inklusive einer geteilten Autorität über Objekte, Deutungen und finanzielle Mittel sollte der nächste Schritt dieses Bekenntnisses zur eigenen Aufarbeitung sein.

Wie bereits in den Diskussionen der Tagung „Provenienzforschung zu ethnologischen Sammlungen der Kolonialzeit“ im Münchener Fünf-Kontinente-Museum zwei Wochen zuvor kam auch in Stuttgart die Existenzangst europäische Völkerkundemuseen vor dem Hintergrund zunehmend kritischer Debatten zur Sprache. CIRAJ RASSOOL (Kapstadt) betonte abschließend, es könne nicht um die Auslöschung von Geschichte, sondern um eine kritische Aufarbeitung unter Ausweitung der Teilhabe an europäischen Museen gehen.

An diesem Punkt gilt es für zukünftige Forschungs- und Vermittlungsarbeit anzusetzen. Die internationalen Beiträge der Stuttgarter Tagung konnten sich größtenteils von der weit verbreiteten „Rückforderungsangst“ lösen und ermöglichten damit eine angeregte Diskussion, die über die bereits zwei Wochen zuvor von WAYNE MODEST (Leiden) bei der Münchner Tagung kritisierte Lähmung durch die Frage „zurückgeben oder nicht?“ hinausging. Die geforderte Umdeutung von Museen und ihren Sammlungen, um postkolonialen Ansprüchen gerecht zu werden, sollte neben der wissenschaftlichen Aufarbeitung durch eine breite Kommunikation und eine Öffnung der Sammlungen begleitet werden. Die interdisziplinären Beiträge in Panels und Diskussionen erweiterten hier den Horizont der Fragestellungen nach dem Umgang mit dem „kolonialen Erbe“ ethnologischer Museen um ihre historischen Hintergründe und aktuellen Bedeutungen und lieferten damit einen vielversprechenden Ausblick auf zukünftige Projekte.

 

[1] Siehe die Tagungsankündigung: http://www.lindenmuseum.de/fileadmin/user_upload/images/fotogalerie/Schwieriges_Erbe/Faltblatt_Einladung_SchwierigesErbe.pdf