Von Tania Mancheno

Die Produktionen Die Stillgestellten / Salle des Pas Perdus von Hannah Hurtzig mit der Mobilen Akademie Berlin und Beytna von Omar Rajeh mit der Compagnie Maqamat bearbeiteten im Rahmen von „Theater der Welt“ eine ähnliche Fragestellung: „Was hält die Menschheit zusammen?“

In der komplexen Installation und Ausstellung Die Stillgestellten / Salle des Pas Perdus wird das Thema Tod aus einer transdisziplinären wissenschaftlichen Perspektive behandelt. Zahlreiche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sowie deren Forschungsergebnisse sind Teil der Produktion. In Beytna kommt auch eine Transdisziplinarität ins Spiel: Die Transdisziplinarität der Künste. In Beytna werden das Essen, das Tanzen und das Singen auf der Bühne gefeiert.

„Was hält die Menschheit zusammen?“ Diese Frage scheint mir, verbindet beide Produktionen, da der Tod genauso wie das Essen wesentliche Elemente dessen sind, die uns Menschen jenseits von religiösen, sprachlichen und politischen Unterschieden verbindet. Das bedeutet, dass was uns zu Menschen macht ist – unter anderem -, dass wir sterben werden und, dass wir Essen benötigen, um zu (über)leben. Es klingt vielleicht simpel, jedoch sind es gerade diese Selbstverständlichkeiten des Menschlichen, mit denen Rajeh und Hurtzig arbeiten, um uns zu dann mit ihren Produktionen zu überraschen.

In beiden Produktionen ist eine Einbindung des Publikums unausweichlich. Sie ist sogar bewusst eingeplant. Jedoch sind in beiden Fällen Spielräume für die persönliche Entscheidung mitzumachen und die Entscheidung der selbst gewählten Distanz oder Nähe zum Geschehen mitgedacht. In keinem der Fälle bildet sich eine ‚Zwangsgemeinschaft‘ aus der Interaktion zwischen den Theaterfiguren und dem Publikum. Es geht vielmehr, sowohl in Die Stillgestellten /  Salle des Pas Perdus als auch in Beytna, um eine bewusste Art des gemeinsamen Erlebens von Theater(produktionen).

Im Doppeltitel Die Stillgestellten / Salle des Pas Perdus geht es nicht um eine genaue Übersetzung. Beide Titel erfüllen jeweils eine Funktion, da sie zwei unterschiedliche, jedoch zusammenhängende Perspektiven wiedergeben: Salle des Pas Perdus ist ein architektonischer Begriff, der den Vorraum (auch Wartesaal) in einem Verwaltungsgebäude bezeichnet, in dem die Geladenen (oder die Stillgestellten?) auf deren Termin oder Urteil warten. Es ist das sinnlose Warten, auf das die metaphorisch gemeinten ‚verlorenen Schritte‘ verweisen. Das Nomen „Stillgestellte“ steht nicht für den Raum, sondern für die Subjekte, die sich in dem Saal befinden. Hierdurch wird der Begriff des Wartesaals aus der anthropologischen Perspektive definiert.

Auch in dem Titel Beytna kommt ein architektonischer Begriff vor. Die ‚Verräumlichung‘ des sinnlosen Wartens, welche im Titel Die Stillgestellten hervorgerufen wird, wird hier eher durch das Sinnliche von Musik und Gerüchen ersetzt: Im Libanon steht Beytna für eine Einladung zu sich nach Hause. Der Begriff setzt sich zusammen aus dem arabischen Wort „beyt“ (Haus) und dem Suffix -na, dem Kollektivpronomen „wir“.

Beide Inszenierungen funktionieren wie Brainstormings über das Thema Tod und Leben. Es geht dabei weder um Religion noch um Kult. Es geht auch nicht um „Multikulti“ – und dies, obwohl gerade diese Themen sehr religiös und kulturell geprägt sind. In beiden Produktionen schaffen Rajeh und Hurtzig eine nüchterne Auseinandersetzung mit dem Thema Tod und Leben, die jedoch jeweils eine eigene Kultur während der Vorstellung entfaltet. Aus diesem Grund schließt sie niemanden von vornherein aus (nicht mal die Gestorbenen!) – so wie es normalerweise eine Kultur tut.[1]

Bei Die Stillgestellten / Salle des Pas Perdus handelt es sich um eine performative Installation mit 6 Stationen und einer Bar. Ich zitiere die Selbstbeschreibung der mobilen Akademie: „Eine mechanisch animierte Arena, ein Garten mit Wasser- und Fernsehberieselung, ein Tarotspiel um die Zukunft des Meeres, die Leichenhalle einer TV-Produktion und ein historisch sendungsbewusster Musikkanal. An den jeweiligen Stationen teilen Expert*innen aus Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft ihr Wissen über Logistik, Bathymetrie, Thanatologie, Corpse Acting oder den Black Atlantic. Das Publikum kann sich per Kopfhörer auf fünf Kanälen den einzelnen Sprechakten zuschalten.“

Hannah Hurtzig: Die Stillgestellten, © Kerstin Behrendt

Aus einem professionellen und einem ‚dilettantischen‘ Blickwinkel und wird das Thema Tod behandelt. Neben wissenschaftlichen Diskussionen mit Nana Adusei-Poku, Christina Sharpe u.a. über Blackness, Post-Black, Versklavung und Wasserströme, gibt es auch die Möglichkeit, die Diskussion über einen DFG-Projektantrag mit der Betitelung „Das Milieu der Toten“ zu hören. Die Arena, in der die hochkomplexe Auseinandersetzung mit den verschiedensten Dimensionen einer Forschung über den Tod und die Toten stattfindet, wurde von Humboldt Forum finanziert. Eine ironische Distanzierung bezüglich der Themabehandlung wird stets herausgefordert. „Brauchen die Toten Pässe?“ fragt einer der Wissenschaftler, um von einer anderen die Rückfrage zu bekommen: „Ist die Forschung von den Toten für die Toten oder für die Lebendigen gedacht?“ Mehr als zwei Stunden lang diskutieren sie ernsthaft über die Skurrilität einer Wissenschaft, die noch kein genaues Bild von ihrem Forschungsobjekt hat.

An einer anderen Station namens Casting (konzipiert von dropdeadgorgeous) gibt es die Möglichkeit, die Vorbereitung von einer Serie mitzuverfolgen, welche die deutsche Kolonialzeit im heutigen Namibia, mit allen ihren Toten, thematisieren soll. Die ‚anerkannten‘ Toten sind gemeint. Aus diesem Grund sind ausschließlich weiße Körper in einem aufgebauten Autopsiesaal zu sehen. Ein Casting für den 6. und 7. Juni in Hamburg, die Vorstellungstermine im Rahmen von „Theater der Welt“, wird angekündigt.

Foto: Hannah Hurtzig: Die Stillgestellten, © Kerstin Behrendt

Diese Installation zeichnet sich durch hohe Beweglichkeit aus, nicht zuletzt durch das Publikum. Sie entscheiden, wie erst die Diskussionen wahrzunehmen sind. Sie entscheiden auch, wo sie stehen bleiben, wo sie wem zuhören wollen und wann es einfach Zeit zu gehen ist.

Ich habe mich für die Station Screen entschieden, in der über Kopfhörer neben sich wiederholender elektronische Musik auch der Satz zu hören war „I put a shell on my ear and it all becomes clear“. Ab und zu waren auch Analysen von Bildern zu hören, welche auf dem Bildschirm über die Arena zu sehen waren. Es kamen bereichernde kurze Beiträge u.a. über die Geschichte, Etymologie und Nutzung von Sklavenschiffen, über die Bedeutung der Farbe Schwarz für die Trauer und die Mode von Coco Chanel vor. Ich habe mich gefragt, woher diese Texte stammen. Ob es sich dabei wohl um Aufnahmen aus dem Audioarchiv der Mobilen Akademie handelt, welches seit der Aufführung vom Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen in Warschau (2004) aufgebaut wird?

Kopfhörer wurden bei Beytna nicht benutzt. Die Musik war für alle da. Die Noten riechen und die Gerüche hören waren die Imperative des Abends. Die Bühne bestand aus einem riesigen langen Tisch, der bewegt werden konnte, um den Künstlern und Künstlerinnen für ihre Bewegungen genug Platz zu geben. Gleichzeitig wurde während dessen auf der Bühne für das Publikum gekocht.

Foto: Beytna, © Ibrahim Dirani

Ursprünglich war im Festivalprogramm die Mitwirkung des gefeierten Trio Joubran bei Beytna angekündigt. Die Besucherinnen und Besucher von „Theater der Welt“ hätten sich sicherlich gefreut, wenn Trio Joubran nochmals in Hamburg zu erleben gewesen wären. Stattdessen bildeten jedoch Ziad Ahmadie, Samir Nasr Eddine und Ziyad Sahhab ein sehr besonderes Oud-Trio. Allerdings ist der Meisterpercussionist Youssef Hbeisch, der bereits Ende Mai mit Trio Joubran beim Festival aufgetreten ist, für Beytna in Hamburg geblieben.

Foto: Beytna, (c) Tania Mancheno

Die Vorstellung von Beytna ging nicht zu Ende, als das Essen fertig gestellt wurde. Das Publikum wurde dazu eingeladen, auf die Bühne zu gehen und sich eine Portion zu nehmen. Das Essen hat wunderbar geschmeckt! Beytna stellte für mich eine Lektion des Teilens (für die deutsche Gesellschaft) dar. Ein liebevolles Essen, zubereitet von Menschen, die (auch noch) eine Aufführung für uns vorbereitet haben.

Beide Theaterproduktionen arbeiten an Kommunikationsstrategien über scheinbar banale, jedoch hoch komplexe Inhalte. Die Selbstverständlichkeit der Sprache, des Todes, des Essens für die Menschheit wird künstlerisch behandelt. Diese einfachen Tätigkeiten, die natürlich sind, weil sie die biologischen Fähigkeiten der Menschen definieren, werden in den Inszenierungen zelebriert, ironisiert und dekonstruiert. Eine Bildung von Gemeinschaft im Sinne eines Zusammenlebens jenseits von Sprache und Religion wird angeregt, indem wir daran erinnert werden, dass wir alle Menschen zwischen Leben und Tod sind.

 

[1] Siehe Stuart Hall New Ethnicities (1996). In dem Artikel definiert Hall „Kultur“ als ein Regime der Repräsentationen von (kulturellen, politischen und rassifizierten) Beziehungen.