Über die stockende Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte spricht Prof. Dr. Jürgen Zimmer in einem ausführlichen Gespräch mit dem BR. Ein grundlegendes Problem, so Zimmerer, sei das fehlende Verständnis für die deutsche Gewaltherrschaft in den Kolonien mit ihren „traumatischen Auswirkungen“. Gewalt war zentraler Bestandteil des Herrschaftssystems, zudem wurden die Betroffenen danach in ein „kolonialrassistisches System gezwungen“. Auslöser für die deutschen Kolonialambitionen sei der Anspruch auf Weltgeltung gewesen. Als Rechtfertigung sei die Hoffnung auf Profite hinzugekommen, denn der europäische Kapitalismus sei von Beginn an eng mit dem Kolonialismus verbunden gewesen. Die europäische Kolonialexpansion habe auch das Ziel gehabt, den „Verschwendungskapitalismus am Leben“ zu erhalten.
Die Aufarbeitung in Deutschland nehme jetzt erst Fahrt auf, weil in den 1960er Jahren kaum wie in anderen europäischen Staaten die Erschütterungen der Dekolonisierungsbewegung zu spüren gewesen seien. Stattdessen konzentrierte sich die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte lange Zeit berechtigterweise auf Holocaust und Zweiten Weltkrieg. So sei eine „koloniale Amnesie“ entstanden, die im Fall des Genozids an Herero und Nama erst in den letzten Jahren stärker Thema wurde. Noch immer folgten die Verhandlungen mit Namibia einer kolonialen Logik: Deutschland verweigere eine offizielle Anerkennung und Entschuldigung sowie Verhandlungen direkt mit den Opfergruppen – und wolle „Bedingungen stellen“, wie das Verfahren abzulaufen habe.
Auch mit Hinblick auf die Restitutionsdebatte seien entschiedenere Schritte erforderlich, so Zimmerer. Für Objekte in deutschen Sammlungen, die während des Kolonialismus in Besitz genommen wurden, sei eine Beweislastumkehr notwendig: Ein gewalttätiger oder illegaler Erwerb sei ohne gegenteilige Dokumentation anzunehmen. Diese Überlegung trage dem „Kolonialismus als strukturell rassistisches Unrechtsystem“ Rechnung, ein Aspekt, der in den öffentlichen Debatten sonst zu kurz komme, aber nicht nur für die Vergangenheit Relevanz aufweise: Nur eine intensivere Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen Geschichte würde es Deutschland erlauben, ein neues Zukunftsverständnis unter Einbeziehung der globalen Dynamiken zu entwickeln: „Wir müssen uns dieser Herausforderung stellen“.
Zur Sendung mit zusätzlichen Kurzbeiträgen: https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/dossier-politik/aufarbeitung-deutscher-kolonialvergangenheit-100.html