#Die Stadt Umdenken – Repenser la ville

#5_ Repræsentationen

Gespräch mit Andela B. Sylvie Laure Bambona

Historikerin und Gymnasiallehrerin,

Yaoundé, Kamerun

 

Das Interview wurde von Tania Mancheno geführt

Übersetzung aus dem Französischen von Tania Mancheno und Noemi Calixte

 

 

 

TM: Könnten Sie kurz einige Kernpunkte der deutschen Kolonialgeschichte in Kamerun erwähnen? Sind die Überreste der deutschen Besatzungszeit aus dem späten 19. Jahrhundert vor Ort noch heute vorhanden?

AS: Ja, die Überreste, die verschiedene Zeugnisse der Besetzung unseres Territoriums zwischen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhundert durch die Deutschen bilden, sind in großer Zahl immer noch vorhanden. Diese Elemente sind in zweierlei Form zu finden: Erstens gibt es materielle Überreste, und zweitens gibt es Überreste, die als immateriell bezeichnet werden können.

Zu den materiellen Elementen sind Infrastrukturen verschiedener Art zu nennen:

  1. Einerseits die Verkehrsinfrastrukturen. Dazu gehören z.B. Straßen oder Schienen. Die deutschen Kolonisatoren bauten sie nach den damaligen Standards. Heute sind nur noch die Routen übrig. Viele Verkehrswege, die zum Teil sehr abgelegene Städte verbinden (z.B. die Yaoundé-Kribi- und Yaoundé-Doumé-Achsen), wurden damals von den Deutschen konzipiert. Manchmal blieb die Linienführung dieser Achsen fast identisch mit derjenigen der deutschen Kolonialzeit. Heutzutage wurden an den Verbindungslinien zwischen den Städten nur einige technischen Verbesserungen (wie Verbreitungen, Verlängerung und Asphaltierung) vorgenommen.
  2. Andererseits sind die Gebäude zu nennen. Die deutschen Kolonialhäuser, die größtenteils im 20. Jahrhundert zum Zweck der Unterkunft von Kolonisatoren oder der Kolonialverwaltung gebaut worden sind, wurden schon damals fest gebaut. Noch heute stehen diese Häuser, sowohl in ländlichen als auch in städtischen Gebieten, als Beweis für die deutsche Kolonialzeit. Deutliche Beispiele hierfür bilden die Städte Douala, Doumé, Yaoundé oder auch Buéa im Südwesten des Landes – eine Stadt am Fuße des Berges Kamerun, wo sich viele Deutsche niederließen, und die als eine der Hauptstädte während der Kolonialzeit diente. Noch heute werden die Kolonialgebäude für die Verwaltung und öffentliche Dienstleistungen vom Staat benutzt.

Als immaterielle Überresten der Kolonialzeit sind folgende Elemente zu nennen:

  1. Historische Dokumente: Beispielsweise die Verträge und Karten, die insbesondere als Grundlage dazu dienten, die Ansprüche über einen Teil des kamerunischen Territoriums in Nigeria vor dem Internationalen Strafgerichtshof zu erheben.
  2. Die Toponymie (auch Ortsnamenskunde): Hier in Kamerun gibt es heute einige Ortsnamen, die aus der deutschen Kolonialzeit stammen. Diese Ausdrucksform des deutschen Kolonialerbes ist auf drei Ebenen zu finden: Erstens in der deutschen Schreibweise des Namens der Stadt Dschang, die im Westen des Landes situiert ist. Im Französischen wird der Wortlaut „sch einfach als „chgeschrieben. Demnach ist die Schreibweise „sch im Namen der Stadt ein deutsches Vermächtnis. Zweitens findet sich das deutsche Kolonialerbe in den deutschen Namen von Gebieten, wie beispielsweise das Lolodorfer Gebiet, und im Osten des Landes Djaposten, wieder.
  3. Drittens ist das Erbe in den Ortsbenennungen zu finden, die einen Bezug zur Vergangenheit der Kolonialzeit herstellen. Ein Beispiel dafür bildet die Stadt Ngoulemakong, deren Name in der Sprache der Region „die Kraft des Pfeiles“ bedeutet. Der Name entstand als Hommage an den Widerstand, der von den lokalen Bevölkerungsgruppen gegen die deutsche imperialistische Bewegung geleistet wurde.
    Auch die Stadt Bertoua hat ihren Namen aus dieser Zeit, weil sie einem Ort entspricht, an dem der kamerunische Chef Mbartoua lange Zeit gegen die deutsche Besetzung kämpfte. Als imperial-linguistischer Ausdruck dieser Zeit resultiert der heutige Name seines Dorfes Bertoua aus der Transkription Mbartouas Namen in der deutschen Sprache.
    Einige Städte oder Viertel tragen den Namen Awae. Der Name wird als „Ort der Erholung“ übersetzt. Diese Orte wurden während der deutschen Kolonialzeit als die Zonen konzipiert, in denen die Träger sich ausruhen konnten, bevor sie die langen und schwierigen Wege fortsetzen, welche die verschiedenen städtischen und wirtschaftlichen Entwicklungszentren des Protektorats miteinander verbanden.
    Ebenfalls in der Stadt Yaoundé trägt einer der ältesten Stadtteile (gegründet zwischen ca. 1900 und 1903) den Namen Briqueterie (französisch für Ziegelei), da die Deutschen, vor Ort, eine der mächtigsten Ziegelbrennereien der Stadt errichtet hatten. Diese Fabrik produzierte die Ziegel, womit die Deutschen die neuen modernen Wohnhäuser der Kolonie errichteten.
    Die mächtige ethnische Gruppe, die Bamiléké genannt wird, erhielt ihren Namen ebenfalls aus dieser Zeit. Eigentlich bedeutet der Begriff Bamiléké absolut nichts in ihrer Sprache. Der Name entsteht aus der von den Deutschen benutzten Bezeichnung, welche wiederum aus falschen Informationen über die Bevölkerungsgruppe resultiert, welche von einem der „Tikar[1]-Träger“ den deutschen Kolonisatoren weitergegeben wurde.Auch weitere Beispiele dieser Art, die ich benennen könnte, würden die zahlreichen Aspekte über das deutsche Kolonialerbe in Kamerun nicht ausschöpfend darstellen.
  4. Auf kultureller und psychologischer Ebene sind bestimmte Gewohnheiten zu nennen. Dazu zählt der Verkauf von Lebensmitteln auf der Straße und in der Umgebung von Institutionen. Diese urbane Praxis ist in der Zeit der deutschen Herrschaft entstanden, da die Kolonisatoren Frauen dazu zwangen, die an bestimmten Orten niedergelassenen freiwilligen Arbeiter, oder die Zwangsarbeiter mit der jeweils vertrauten Nahrung zu versorgen. Ziel der Praxis war es, die Unterernährung der Arbeitenden sowie deren „Heimweh“ zu vermeiden.
    In diesem Zusammenhang werden bestimmte Verhaltensweisen, wie die Neigung dazu, Bier zu trinken, dem deutschen Kolonialismus zugeschrieben.
    Auch sprachliche Ausdrücke aller Art, wie beispielsweise „twenty-five“, eine Übersetzung des deutschen „fünfundzwanzig“, das an die Brutalität der von Deutschen zugeteilten Schläge auf die Bewohner*innen Kameruns erinnert, sind dazu zu zählen.
    Auch „chouagne“, französische Lautschrift für Schwein, eine Beleidigung, die der deutsche Kolonialherr für die Arbeiter*innen benutzte, und später auch von den Arbeiter*innen selbst dafür verwendet wurde, um, wie es einmal der Deutsche tat, die angeblich minderwertigen Fähigkeiten oder den angeblichen Schmutz ihrer Mitmenschen nun gegenseitig zu verleumden…
    Solche koloniale Ausdrucksweisen bewohnen die kamerunische Erinnerung und prägen die Gegenwart. Diese unterschiedlichen Verhaltensweisen und linguistischen Ausdrücke, die „aus dem Nichts“ zu entstehen scheinen, sind dagegen tief in der Zeit der deutschen Kolonisierung dieses Territoriums verankert

TM: Ist es derzeit möglich, das deutsche Kolonialerbe in den Stadtlandschaften, zum Beispiel in Yaoundé zu entziffern, oder liegt es eher in den nicht-städtischen Gebieten des Landes, die demographisch weniger dichte Regionen oder Naturschutzgebiete bilden?

AS: Das deutsche Kolonialerbe ist überall: In den Großstädten, ebenso wie in den ländlichen Gebieten. Wir haben bereits den Fall von Gebäuden erwähnt, die in zahlreichen Städten immer noch als öffentliche Gebäude für die Staatsverwaltungen und die Regierung Kameruns genutzt werden. In Yaoundé gilt das im Jahr 1908 erste aus langlebigen Materialien (Erdziegel und Zement) gebaute Haus noch heute als Kulturerbe. Dies wurde damals vom deutschen Stationsleiter der Region Yaoundé, Hans Dominik, benutzt.

In Buea dient der zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebaute Palast des deutschen Gouverneurs Jesko von Puttkamer auch heute als Präsidentenpalast der südwestlichen Region des Landes.

Sogar die Stadtplanung einiger Städte entspricht teilweise immer noch den ehemaligen Zielen deutscher Kolonialisten und ist eng mit dem von den Deutschen damals definierten Kolonialentwicklungsplan des Landes verbunden.

In Yaoundé sind die Innenstadt, der Ort des zentralen Krankenhauses sowie das Händlerviertel Haoussa (Briqueterie genannt) rein deutsche Werke. Sie existieren noch heute in den vom kaiserlichen Deutschland festgelegten Gebieten.

Die heute als „Schulgasse“ bekannte Straße entspricht genau den damaligen deutschen Planungen. Heutzutage sind neben der alten deutschen Schule, welche die Grundschule beherbergt, zwei staatliche Gymnasien, sowie zwei Grandes Écoles oder Ausbildungszentren für Lehrer*innen und Staatsbeamter, zu finden. Kurz: Auf einer Strecke von knapp 1000m2 sind insgesamt fünf Ausbildungszentren vorhanden, die sich der Bildung der kamerunischen Jugend widmen.

 

TM: Die großen Hauptstädte einiger lateinamerikanischer Länder wie Mexiko oder Argentinien sind für die Kolonialarchitektur der historischen Stadtzentren bekannt. In den letzten Jahren haben andere Länder wie Kolumbien und Ecuador eine aggressive Gentrifizierung ihrer kolonialen Zentren erlebt. Der Kaufpreis oder die Anmietung von Wohnungen in den Innenstadtquartieren ist sprunghaft gestiegen. Dies führte dazu, dass ein Teil der dort ansässigen Bevölkerung ihre Häuser verlassen und in die Vorstädte ziehen musste.

Gibt es Ihrer Meinung nach einen historischen Widerspruch in der Tatsache, dass ein koloniales Zentrum zum wichtigsten Touristenzentrum eines unabhängigen Landes wird?

 AS: Ich denke, das könnte ein Problem sein. In Kamerun war die Stadtentwicklung unter deutscher Herrschaft jedoch nicht so sprunghaft, weil die Deutschen offenbar nicht über die Mittel verfügten, vor allem nicht über die Arbeitskraft. (Die zahlreichen kamerunischen Widerstände gegen den Imperialismus/Kolonialismus, die zum Teil bis zum 1911 andauerten, d.h. nur drei Jahre vor dem Krieg und dem Abzug der Deutschen zeigen, dass Kameruner*innen nicht immer mit ihnen zusammengearbeitet haben.) Das vorhandene Erbe ist eher über das ganze Land verstreut, sodass es nicht zu der Politik in den Stadtzentren kommen könnte, von der Sie sprechen.

TM: Ist es möglich, eine lokale Identität neu zu denken, die nicht ausschließlich kolonial ist?

AS: Dies ist hier bereits aufgrund bestimmter Besonderheiten der Fall. Die Kolonialzeit hat unsere Kulturen fast vollständig geprägt. Was die mentalen und architektonischen Strukturen angeht, so ist es notwendig, an eine lokale Identität neu zu denken, die nicht immer mit dieser Periode unserer Geschichte verbunden ist.

 

[1] Bevölkerungsgruppe Kameruns, die im 16. Jahrhundert das Königreich Bamoun bildete.