Der langsame Bedeutungsrückgang der ‚klassischen‘ atlantischen Sklaverei im Lauf des 19. Jahrhunderts beendete keineswegs die systematische Ausbeutung in Form von unfreier Arbeit in kolonialen Kontexten. Zum einen lässt sich ein letzter Aufschwung in traditionell von der Plantagenwirtschaft geprägten Gebieten wie den US-Südstaaten, Kuba und Brasilien um die Jahrhundertmitte beobachten. Der Soziologe und Historiker Dale Tomich prägte hierfür den Begriff der ‚Second Slavery‘.[1] Hamburg stand mit den meisten dieser Gebiete in engem wirtschaftlichen Kontakt, schloss etwa bald nach deren Unabhängigkeit Handelsverträge mit Brasilien und anderen südamerikanischen Staaten. Auch erwarben Kaufleute aus der Stadt vom 18. bis weit ins 19. Jahrhundert hinein Plantagen, die sie von versklavten Menschen bestellen ließen.[2]

Neben dieser fortgesetzten Plantagenwirtschaft entstanden aber auch neue, weniger offenkundige Formen der unfreien Arbeit. Diese sind nicht mit der atlantischen Sklaverei gleichzusetzen, denn zumindest offiziell bestanden bessere Schutzmechanismen für die betroffenen Menschen. Doch in der Praxis waren die Unterschiede mitunter marginal: Ein Arbeitsvertrag ist bedeutungslos, wenn er unter Zwang oder Täuschung unterzeichnet wurde und die Pflichten auf Seite der Arbeitgebenden und Behörden weitgehend ignoriert werden konnten. Für die Forschung ist es aber oft schwieriger, solche vermeintlich freien Arbeitsverhältnisse zu untersuchen, da mehr Grauzonen bestehen. Umso wichtiger ist es, Kontinuitäten zur atlantischen Sklaverei mitzudenken und Ähnlichkeiten und Unterschiede zu analysieren.

Das wohl eindrucksvollste Beispiel, um die Ähnlichkeiten hervorzuheben, sind die sogenannten ‚Kulis‘. Die abwertende Bezeichnung fand mit dem intensivierten europäischen Kolonialismus in Asien Verwendung für meist indische oder chinesische Arbeiter – nur selten Frauen –, die in der Landwirtschaft, als Bedienstete oder Tagelöhner tätig waren. In den asiatischen Herkunftsgebieten unterschieden sich ihre Arbeitsbedingungen nicht fundamental von den vorkolonialen Üblichkeiten oder auch denen der Unterschichten in Europa. Doch mit dem Transport in andere Kolonien verschlechterte sich ihre Situation oft radikal. Schon zeitgenössisch wurde dieser ‚Kulihandel‘ als Form der Sklaverei bezeichnet; seinen Höhepunkt erreichte er in den Jahrzehnten nach der erzwungenen Öffnung Chinas in Folge des ersten Opiumkriegs 1842.[3]

Insbesondere die spanische Kolonie Kuba und Peru gelten als die Gebiete, wo die theoretisch vertraglich reglementierte Arbeit chinesischer Migranten praktisch der Sklaverei glich. Auf kubanischen Plantagen, wo die Unterbindung des atlantischen Versklavungshandels für Arbeitskräftemangel gesorgt hatte, waren die Bedingungen vor Ort für vermeintlich freie chinesische Migranten teils praktisch identisch mit denen versklavter Menschen. In einem Kommissionsbericht zur Situation, dem ‚Cuba Commission Report‘ von 1876, berichteten chinesische Arbeiter von ihrer Zwangsrekrutierung, den miserablen Bedingungen auf den Schiffen und der Gewalt auf den Plantagen. Aus ihrer eigenen Sicht würden sie genauso behandelt als wären sie versklavt. Der von der Kommission befragte Hu Ju antwortete etwa „Ich bin seit 27 Jahren hier. Die Bewohner [Kubas] wollen die Chinesen wirklich zu Sklaven auf Lebenszeit machen“.[4]

Aber was verbindet diese Sklaverei unter anderem Namen mit Hamburg? Neben den fortgesetzten regulären Handelsbeziehungen mit Kuba – wo bis in die 1880er Jahre auch noch die oben skizzierte ‚Second Slavery‘ existierte – ist das die Beteiligung hanseatischer Schiffe am ‚Kulihandel‘. Einige von ihnen, etwa die ‚Norma‘ 1861 und die ‚Carl‘ 1866, gingen direkt aus Macao, dem portugiesischen Stützpunkt an der chinesischen Küste, nach Kuba, weitere nach Peru.[5] Zudem fuhren Schiffe oft unter fremder Flagge, beispielsweise der spanischen oder peruanischen, teils mit deutschen Mannschaften. Der deutsche Kapitän Alfred Tetens berichtet in seiner Autobiografie offen von Rassismus und Gewalt, mit der er und seine deutsche Mannschaft die chinesischen Passagiere auf dem peruanischen Schiff ‚Perseverancia‘ unter Kontrolle zu halten versuchten.[6]

Ein Großteil der Fahrten mit chinesischen Migrant:innen auf Hamburger Schiffen ging allerdings nach Singapur, Australien oder an die nordamerikanische Westküste. Auch hier agierten die Hinterleute oft primär mit den eigenen Profiten im Sinn und überluden die Schiffe. Im besten Fall bedeutete das ‚nur‘ schlechte hygienische Bedingungen, im schlimmsten eine erhöhte Gefahr von Unglücken. Mindestens zwei überfüllte Hamburger Schiffe gingen auf der vergleichsweise kurzen Route von Xiamen (zeitgen.: Amoy, siehe Abbildung) bzw. Shantou (zeitgen.: Swatow) nach Singapur unter. Fast alle der etwa 540 Menschen an Bord der ‚Canton‘ kamen dabei 1865 ums Leben, mindestens 400 weitere im Fall der ‚Peru‘ 1870. Letztgenanntes Schiff war im Besitz der bedeutenden Reederei Laeisz,[7] die bis heute im Hamburger Stadtbild in Form des hier abgebildeten Laeiszhofs oder der Laeiszhalle äußerst präsent ist. Für diejenigen unter den chinesischen Migranten, die Singapur erreichten, bot die britische Kolonie Straits Settlements (neben Singapur noch weitere Gebiete wie Penang im heutigen Malaysia) tendenziell etwas bessere Bedingungen als etwa Kuba. Eine etablierte chinesischstämmige Bevölkerung bedeutete eine andere soziale Struktur mit mehr unterschiedlichen Beschäftigungsfeldern, die kürzere Strecke erlaubte eine einfachere Rückkehr. Das Prinzip der Indentur, also der Vertragsknechtschaft nach Vorstrecken der Reisekosten, sorgte aber auch in Südostasien für eine große Anzahl an unfrei arbeitenden Menschen.[8]

Zeitgenössische Darstellung Xiamens (zeitgen. Transkription: Amoy), ca. 1880er Jahre, einer der wichtigsten Häfen des sogenannten 'Kulihandels'; aus: Edwin Joshua Dukes, Along River and Road in Fuh-Kien, China, New York [1886], https://archive.org/details/alongriverroadin00dukerich
Zeitgenössische Darstellung Xiamens (veraltete Transkription: Amoy), ca. 1880er Jahre, einer der wichtigsten Häfen des sogenannten ‚Kulihandels‘; aus: Edwin Joshua Dukes, Along River and Road in Fuh-Kien, China, New York [1886], https://archive.org/details/alongriverroadin00dukerich

Obwohl sich die Bedingungen durch Maßnahmen seitens der chinesischen Regierung und lokalen Verwaltung wie auch durch Vorschriften der Kolonialmächte über die Jahrzehnte etwas besserten, blieb das System für Missbrauch und Rassismus anfällig. Zumindest bis zum Ersten Weltkrieg änderte sich an den Grundzügen wenig. Die deutsche Beteiligung nach der Kolonialreichsgründung ist dann auch schon besser erforscht – Hamburgs Rolle in der Zeit von den 1850er bis in die 1880er Jahre findet aber selbst in Spezialliteratur nur in Ansätzen Erwähnung.[9] Dabei ist sie in absoluten Zahlen der direkt betroffenen Menschen die wohl bedeutsamste Beteiligung der Stadt an kolonialer unfreier Arbeit. Genaue Zahlen sind dabei allerdings schwierig zu ermitteln, nicht nur angesichts der schon thematisierten Nutzung fremder Flaggen und überschaubaren Forschung. Oft fehlen die klaren Belege, wer freiwillig migrierte und wer durch Zwang oder Täuschung, sofern sich diese Trennung überhaupt ziehen lässt. Insgesamt transportierten deutsche Schiffe in den mittleren Dekaden des 19. Jahrhunderts wohl eine mindestens fünfstellige Anzahl chinesischer Migrant*innen auf einer dreistelligen Zahl an Fahrten – wovon Hamburger Schiffsbesitzer und Seeleute für einen erheblichen Anteil verantwortlich zeichneten.[10]


[1] Tomich, Dale, The Second Slavery and World Capitalism: A Perspective for Historical Inquiry, in: International Review of Social History 63 (2018), S. 477–501.

[2] Siehe dazu etwa Schramm, Percy Ernst, Neun Generationen. Dreihundert Jahre deutscher „Kulturgeschichte“ im Lichte der Schicksale einer Hamburger Bürgerfamilie (1648–1948), Göttingen 1963/64, Bd. 2, S. 207–222 zu Ernst und Adolphine Schramms Plantage in Brasilien.

[3] Als zeitgenössische deutsche, allerdings selbst oft herabwertende Kritik: Beta, O., Der Kulihandel und die Kulis, in: Magazin für die Literatur des Auslandes 45 (1873), 670–674.

[4] Mit einer Vielzahl an Zitaten: Helly, Denise (Hrsg), The Cuba Commission Report. A Hidden History of the Chinese in Cuba. The Original English-Language Text of 1876, Baltimore, Md. 1993, S. 33, Zitat [Übersetzung Englisch-Deutsch JzL] S. 89. Siehe zu den der Sklaverei ähnlichen Bedingungen auch Hu‐Dehart, Evelyn, Chinese Coolie Labour in Cuba in the Nineteenth Century: Free Labour or Neo‐Slavery?, in: Contributions in Black Studies 12 (1993), S. 38-54, hier S. 44–48.

[5] Meagher, Arnold J., The Coolie Trade. The Traffic in Chinese laborers to Latin America 1847–1874, Philadelphia 2008, S. 384, 391.

[6] Tetens, Alfred, Vom Schiffsjungen zum Wasserschout. Erinnerungen aus dem Leben des Capitäns Alfred Tetens, 2. Aufl., Hamburg 1889, S. 110–141. Wie der Buchtitel andeutet, wurde Tetens später Wasserschout in Hamburg, d.h. übernahm eine wichtige Aufsichtsfunktion über die Seefahrt im Hafen.

[7] Eberstein, Bernd, Hamburg – China. Geschichte einer Partnerschaft, Hamburg 1988, 173f.

[8] Ching-hwang, Yen, A Social History of the Chinese in Singapore and Malaya, 1800–1911, Singapore 1986, S. IX, 4–7.

[9] Ausführlich für die deutschen Debatten: Conrad, Sebastian, Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, München 2006, S. 168–228. Für ein konkretes Fallbeispiel aus Deutsch-Ostafrika: Haschemi Yekani, Minu, Koloniale Arbeit. Rassismus, Migration und Herrschaft in Tansania (1885–1914), Frankfurt a. M. 2019, S. 41–52. Als zwei der wenigen Ausnahmen für die Zeit vor der Reichsgründung: Wippich, Rolf-Harald, Die „Fanny Kirchner“-Affäre 1860. Eine oldenburgische Bark, der chinesische Kulihandel und die internationale Reaktion, in: Menschenhandel und unfreie Arbeit, hrsg. v. Michael Mann, Leipzig 2003, S. 61–79 (Mit Fokus auf das Land Oldenburg, unter dessen Flagge das Schiff fuhr); sowie mit kurzer Erwähnung der Thematik Eberstein, Hamburg S. 173f.

[10] Diese Schätzung beruht auf meiner Auswertung der verfügbaren Forschungsliteratur, gedruckten und archivalischen Quellen. Eine ausführliche Veröffentlichung dieser Erhebung folgt.