von Jürgen Zimmerer
Bundestagspräsident Norbert Lammert war dieser Tage (6.10.-9.10.2015) auf heikler Mission in Namibia, nachdem er im Juli aus Anlass des 100. Jahrestages der deutschen Kapitulation in Südwestafrika ungewohnt offene Worte zu den „beschämenden Verbrechen“ während des deutschen Kolonialismus gefunden und diese deutlich als Genozid gebrandmarkt hatte. Nur zwei Tage später änderte auch das Auswärtige Amt seine langjährige Position und gab bekannt, die Ereignisse nun ebenfalls als Völkermord zu bezeichnen. Damit gewann auch die Frage nach der offiziellen Anerkennung des Genozids an den Herero und Nama im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika, verbunden mit einer Entschuldigung seitens des Bundespräsidenten und/oder des Bundestages, sowie die Frage nach geeigneten Formen der Aussöhnung und Wiedergutmachung deutlich an Bedeutung.
Offiziell war Lammert zu einem Arbeitsbesuch in Namibia, d.h. er führte dort Gespräche mit vielen Beteiligten und konnte so einen Eindruck über Stimmung und Situation vor Ort gewinnen, offizielle Erklärungen waren von ihm jedoch nicht zu erwarten gewesen. Erfreulich ist auf jeden Fall, dass sich ein deutscher Spitzenpolitiker für die Möglichkeiten einer Verständigung über den ersten Völkermord des Zwanzigsten Jahrhunderts interessiert und schon alleine dadurch einen kleinen Beitrag dazu leistet.
Entschuldigung, Aussöhnung und Wiedergutmachung
In Namibia sind die Folgen des ersten deutschen Genozids bis heute spür- und beobachtbar, etwa in der ungleichen Vermögensverteilung mit weltweit einem der höchsten Unterschiede zwischen reich und arm, mit vielen der Nachfahren der einstigen Opfer auf der untersten Stufe des Skala, und den Nachkommen der deutschen Kolonialisten, Siedler und Soldaten auf den oberen. Sie sind auch sichtbar in der Landverteilung, in der immer noch überproportional große Teile des Landes im Besitz „weißer“ Farmer sind, gerade auch im „Hereroland“, das als Strafe für den Widerstand von deutscher Seite enteignet und nach und nach an deutsche Siedler verteilt worden war, in deren Händen es teilweise bis heute blieb.
Seit Jahren schon fordern vor allem Vertreter der Herero und Nama eine Anerkennung des Krieges als Völkermord, eine offizielle deutsche Entschuldigung und Reparationen. Ein erster Versuch, Wiedergutmachung juristisch einzuklagen, scheiterte 2001 in den USA, da sich das amerikanische Gericht als nicht zuständig erklärte. Eine erneute Klage steht immer noch im Raum.
Bereits 2004, aus Anlass des einhundertsten Jahrestages des Kriegsbeginns, hatte sich mit der damaligen Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul, ein deutsches Regierungsmitglied in offizieller Funktion entschuldigt. In Deutschland selbst wurde sie dafür lange geschmäht, mit den Entwicklungen seit Juli ist ihre Position zumindest in dieser Frage nachträglich rehabilitiert. Dass dies 11 Jahre dauerte, ist jedoch auch Beleg dafür, dass ihre Initiative zum Teil letztlich verpufft war.
Das Fehlen der Zivilgesellschaft
Es lohnt sich darüber nachzudenken, wieso dies geschehen ist, auch um eine Wiederholung zu vermeiden. Sicherlich gibt es verschiedene Gründe dafür, zum Teil liegen sie auch in namibischer wie deutscher Innenpolitik, also in der durchaus wechselhaften Bereitschaft der Regierungen, Forderungen der Opfergruppen zu unterstützen. Mit am Nachteiligsten wirkte sich die Entscheidung aus, die Vergangenheit im Wesentlichen auf diplomatischen Weg bereinigen zu wollen, in direkten Konsultationen der Regierungen beider Länder. Es mag zwar diplomatischen Gepflogenheiten entsprochen haben, nur Staaten und deren Führungen als internationale Gesprächspartner anzuerkennen, aber das weitgehende Außen-Vor-Lassen der Zivilgesellschaft zeitigte weitreichende Folgen.
Auch sollte es sich als schwere Hypothek erweisen, dass die politischen Bemühungen nicht oder kaum durch Maßnahmen zur historischen Aufklärung, zur politischen und schulischen Bildung oder allgemein der kollektiven Erinnerung flankiert wurde. 11 Jahre nach dieser Initiative ist das Wissen um (deutschen) Kolonialismus allgemein und um den ersten deutschen Genozid im Besonderen immer noch nicht überall in den Schulcurricula verankert, gibt es keine offiziellen Denkmäler und wissen viele Menschen nichts oder kaum etwas über die zugrunde liegenden historischen Ereignisse. Wohlbemerkt, hier ist von Deutschland die Rede, nicht von Namibia.
Aber die Erinnerung an die Verbrechen der deutschen Geschichte kann nicht nach Namibia delegiert werden, sondern die Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung muss auch dadurch unter Beweis gestellt werden, dass sie in Deutschland geführt wird. Wie aus anderen Aufarbeitungs- und Aussöhnungsprozessen bekannt ist, gewinnt sie nur dann Nachhaltigkeit, wenn sie eine breite, zivilgesellschaftliche Fundierung aufweisen kann. Und nur wenn diese Aufklärung auch über die deutsche Kolonialgeschichte und ihre Verbrechen erfolgt ist, wird sich die Bereitschaft in der breiten Gesellschaft einstellen, sich der daraus ergebenden Verantwortung zu stellen. Genau das ist bisher unterblieben.
Hamburg und der Völkermord
Beobachten kann man dies beispielsweise in Hamburg, neben Berlin wohl der deutschen Kolonialmetropole schlechthin. Von hier aus wurde ein Großteil der deutschen Soldaten, die unter General Lothar von Trotha, den Genozid vorbereiteten und verübten eingeschifft, über Hamburg lief der Nachschub für die Truppen, und auf Hamburger Schiffen wurden Mensch, Tier und Material befördert. In der Hafenstadt profitierten viele vom Krieg; angefangen von den Reedern und Schiffseignern über die Hafenbetreiber bis zu den Händlern und Kaufleuten vor Ort. Allein die Zusammenballung so vieler Soldaten vor einer langen, beschwerlichen und öden Schiffsreise ließ Geld auf mannigfaltige Weise in der Stadt.
Diese Geschichte ist noch weitgehend unerforscht und verdrängt; kein Denkmal erinnert daran. Im kollektiven Gedächtnis der Stadt ist dieses Kapitel nicht vorhanden. Vielmehr wird dieses geprägt durch Denkmäler aus der Zeit, die den Kolonialismus, den Sieg der deutschen Waffen, deutsche Opfer und „deutsches Heldentum“ verherrlichen, wie etwa die offizielle Gedenktafel im Michel, der zentralen Kirche der Stadt. Angebracht 1912 soll sie der deutschen Gefallenen der Kolonialkriege in Afrika und in China gedenken. Bis heute ist sie offiziell unkommentiert, obwohl es dieser Kommentierung dringend bedürfte. Denn der Hinweis auf die deutschen Toten benötigt eine Kontextualisierung, die darauf hinweist, in welcher Art Krieg diese Menschen beteiligt waren, dass sie individuell durchaus Opfer, in der Summe aber Mitwirkende an einem Völkermord waren. Gerade da die Geschichte des Genozids in Deutsch-Südwestafrika noch nicht Teil der allgemeinen politischen Bildung ist, nicht Teil der Erinnerungspolitik und des öffentlichen Gedenkens, ist diese Kontextualisierung noch wichtiger. Es kann eben noch nicht vorausgesetzt werden, dass die heutigen Betrachter den Unrechtskontext, in dem diese Leute starben, schon selbst mitdenken; von einem angemessenen Gedenken an die Zehntausende von Opfer auf Seiten der Herero und Nama ganz zu schweigen.
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Das gilt aber auch für das „Trotha-Haus“ auf dem Gelände der ehemaligen Lettow-Vorbeck Kaserne in Wandsbek-Jenfeld, welche Mitte der 1930er Jahre errichtet wurde, zeitgleich mit den sogenannten Askari-Reliefs, welche vermeintlich die treue afrikanischer Hilfstruppen im Ersten Weltkrieg verherrlichen, de facto aber einen propagandistischen Angriff auf den Friedensvertrag von Versailles darstellten. Im Zuge der deutschen Wiederaufrüstung im unmittelbaren Vorfeld des Zweiten Weltkrieges wurde das erste deutsche Kolonialreich (in Afrika) zum positiven Bezugspunkt, für die Traditionspflege der Wehrmacht am Vorabend der Expansion in Anspruch genommen. In einem Karree aus Kasernengebäuden wurden letztere nach den ehemaligen Kommandeuren der deutschen Schutztruppe für Ostafrika benannt, und mit Büsten der Namensgeber geschmückt. Neben Lothar von Trotha finden sich hier etwa auch Hermann Wissmann oder Paul von Lettow-Vorbeck. Über sie alle und ihrer Verstrickungen in Kolonialismus und Kriegsverbrechen ließe sich viel sagen, das würde aber den Umfang hier sprengen. Das eigentliche Problem ist, dass vor Ort überhaupt nichts dazu gesagt wird. Die Häuser mit ihren Büsten stehen bis heute völlig unkommentiert, wurden als Kasernengebäude von der Bundeswehr benutzt und dienen zur Zeit noch als Wohnquartiere der Studierenden der Helmut-Schmidt-Universität, also der Hochschule der Bundeswehr. Dabei handelt es sich immerhin um die Ehrung für einen Offizier, von dem Wieczorek-Zeul bereits 2004 sagte, er würde heute als Kriegsverbrecher nach Den Haag überstellt (an den Internationalen Strafgerichtshof). In Hamburg-Wandsbek thront er über Bewohnern und Besuchern, als sei nie etwas gewesen, und legt damit unfreiwillig Zeugnis dafür ab, dass die Verbrechen des Kolonialismus nach wie vor vergessen, wenn nicht verdrängt sind.
Es ist oft zu hören, Straßennamen, Gedenktafeln und Denkmäler seien historische Quellen, zu verstehen aus der Zeit ihrer Setzung und Errichtung heraus, wilde postkoloniale und „politisch korrekte“ Bilderstürmerei würden nur die Geschichte verzerren, sie nachträglich reinwaschen. Umso wichtiger ist es, den zeitgenössischen Setzungskontext bekannt zu machen, das kolonialistische und rassistische Programm offen zu legen, vor dessen Hintergrund die Zeitgenossen diese Erinnerungsorte setzten. Unterbleibt dies, werden aus diesen Hinterlassenschaften nicht nur Zeugnisse kolonialer Amnesie, gescheiterter historischer Aufklärung und misslungener Vergangenheitsbewältigung, sondern die Verweigerung kritischer Annotierung bedeutet gleichsam eine Wiederholung des ursprünglichen Setzungsaktes. Wer um die rassistischen Verbrechen weiß, für die die einstmals geehrten Personen und Ereignisse stehen, und sich der Kommentierung und Dekonstruktion verweigert, bestätigt die ursprüngliche Intention.
Der deutsche Kolonialismus in Südwestafrika, mit seinen Kriegen, Völkermorden und seinem Versuch, einen „Rassenstaat“ zu errichten liegt im Zentrum der transnationalen Geschichte Deutschlands und Namibias, ist Ursprung ihrer geteilten, also gemeinsamen, Geschichte. Erinnerung und Aufarbeitung als Grundlage der Aussöhnung und Wiedergutmachung muss deshalb auch in Deutschland stattfinden. Es braucht eine breite zivilgesellschaftliche Diskussion in Namibia und in Deutschland. Vorausgehen und begleiten muss diese eine historische Aufklärung, um die Gesellschaft vor allem in Deutschland zu sensibilisieren für das Unrecht, das in deutschem Namen begangen wurde.
Nicht nur in Hamburg, in vielen Städten finden sich ähnliche Zeugnisse, mit einer ähnlichen Rezeptionsgeschichte, in Hamburg ist es nur verdichteter als in manch anderen Städten. Und Hamburg hat bereits erste Schritte dazu unternommen. Der 111. Jahrestag des „Schießbefehls“ von Trothas vom 2. Oktober 1904 und die 100. Wiederkehr der deutschen Kapitulation in Südwestafrika im Ersten Weltkrieg, sollten deshalb nicht nur Aktivitäten auf höchster politischer und diplomatischer Ebene hervorbringen, sondern auch zur Spurensuche und aktiver Aufarbeitung vor Ort, wo immer das in Deutschland auch sein mag, führen. So lässt sich zeigen, dass Kolonialismus keine ferne Sache „in Übersee“ war, sondern sich auch in Deutschland abspielte und auch hier seine Spuren hinterließ.
Dieser Text von Jürgen Zimmerer ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.[/fusion_builder_column][/fusion_builder_row][/fusion_builder_container]
13. Oktober 2015 um 19:18 Uhr
Dieser Satz: „Ein erster Versuch, Wiedergutmachung juristisch einzuklagen, scheiterte 2001 in den USA, da sich das amerikanische Gericht als nicht zuständig erklärte“, ist schlicht falsch.
Das US-Gericht hatte die Klage der Hereros gegen die Bundesrepublik Deutschland zugelassen. Es hielt sich also sehr wohl für zuständig. Aber die Klageschrift konnte der Beklagten seinerzeit nicht zugestellt werden, weil es gegen den völkerrechtlichen Grundsatz der Staatenimmunität verstoßen würde, wenn ein ausländisches Zivilgericht über einen anderen Staat urteilen würde. Letztlich haben die Hereros die Klage zurückgezogen, ohne dass in der Sache entschieden worden wäre.
Das kann man alles in der juristichen Fachliteratur nachlesen. Als Einstieg sei Interessierten Steffen Eickers, übrigens sehr wohlwollend formulierte Dissertation „Der Deutsch-Herero-Krieg und das Völkerrecht“ empfohlen, die auch im Buchhandel erworben werden kann. Nach der Lektüre dürfte jedem klar werden, dass man über 100 Jahre alte Vorgänge allenfalls politisch, aber kaum mehr juristisch aufarbeiten kann.
Der Kolonialhistoriker Zimmerer hat die einschlägige völkerrechtliche Fachliteratur offenbar nie gelesen, sondern sich bereits mehrfach abfällig und überheblich über die juristische Sicht auf Südwestafrika/Namibia geäußert, ohne die einschlägigen juristischen Argumente überhaupt zu verstehen.
Vielleicht wären wir heute schon sehr viel weiter mit der Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit, wenn aus den Selbstgesprächen der Historiker, Soziologen und Politologen endlich mal ein interdisziplinärer Dialog m i t der Völkerrechtswissenschaft über Namibia entstehen würde.
15. Oktober 2015 um 15:47 Uhr
Michael Pesek hat zu der erwähnten Dissertation von Steffen Eicker eine erwähnenswerte Rezension verfasst: http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-13635