Von Caroline Herfert

Eine der wichtigsten Fragen, die zur Zeit virulent sind, warf Achille Mbembe bei der Eröffnung von „Theater der Welt“ am 25. Mai 2017 in den Raum: „What to do with human bodies we consider unwanted?“, fragte er angesichts gegenwärtiger politischer und sozialer Entwicklungen und forderte, Verantwortung zu übernehmen. In seiner Eröffnungsrede über die Verfasstheit unseres Planeten entwickelte er daher Thesen für eine ‚Ethik der Konsequenzen‘. In diesen fragmentarischen Überlegungen beschrieb er eine politics of abandonment, die sich gegenwärtig immer mehr Bahn breche. Eine Form der Machtausübung, die sich der ungewollten, ‚überflüssig‘ erachteten Menschen entledigt: durch Abschottung, Verdrängung und die Gewalt, die dieser gezielten oder – aus Überforderung, aus Gleichgültigkeit? – in Kauf genommenen Vernachlässigung inhärent ist. Strukturen einer solchen Politik des Zurücklassens, des Aufsichalleingestelltlassens zeigen sich u.a. im Kontext weltweiter Migration vom globalen Süden in den globalen Norden und im Umgang mit Geflüchteten in der ‚Festung Europa‘.

Dass Migration, Globalisierung, und die Denkfigur des Hafens als Umschlagsplatz und Aufbruchsort zentrale Themen dieses Festivals würden, war von Anfang an klar: In den letzten zwei Wochen kreiste eine Reihe von Produktionen oder Veranstaltungen im Programm des Theaterfestivals um die Themen Migration und Flucht. Die ästhetisch mitunter sehr unterschiedlichen Zugänge und Perspektiven auf ähnliche Fragen korrespondieren als ‚künstlerische Blitzlichter‘ auf die Verfasstheit unseres Planeten mit den Überlegungen, die der postkoloniale Denker Mbembe anlässlich der Festivaleröffnung formulierte.

Eine dieser künstlerischen Auseinandersetzungen, die sich sehr eindringlich mit den Lebensrealitäten von Geflüchteten in Europa und der Politik der Vernachlässigung beschäftigt, die Mbembe anriss, ist die performative Installation Sanctuary von Brett Bailey: Der südafrikanische Künstler hat dafür monatelang in Geflüchtetenlagern in Lesbos, Athen, Palermo, Hamburg, Marseille sowie im ‚Dschungel‘ von Calais und Dunkirk recherchiert, wie er in einem Künstlerstatement vorausschickt:

„65 million people around the world are classified by the UNHCR as refugees, asylum-seekers and internally displaced people. I see them on my screens and in newspapers. I glimpse them waiting on pavements and park benches as busy citizens and tourits breeze past. Uncountable fleeting images cometing form y attention. Millions of people kept in limbo in corners oft he Civilized World, on their paths to find a new place to call home.“[1]

Eine Reihe dieser Bilder hat Bailey in eine labyrinthische Anordnung von plakativen, symbolistisch überfrachteten Tableaus übersetzt, die mehrheitlich die Ängste, Ungewissheit, und zermürbende Wartesituationen geflüchteter Menschen aus nächster Nähe zeigen. Neben diesen Szenen stehen aber auch zwei Bilder, die an Vertreter*innen der europäischen Mehrheitsgesellschaft heranzoomen und rechtspopulistischen Argumente einer Angst vor Überfremdung bebildern. Bezugnahmen auf die griechische Mythologie – die Sage von Europa und dem Stier, die Figur des Minotaurus, den Faden der Ariadne –, die Bailey inspiriert haben für seine Reflexion über die Verfasstheit Europas, ziehen sich leitmotivisch als mehr oder weniger offensichtliche Versatzstücke durch dieses düstere Stationendrama.

Foto: Brett Bailey: Sanctuary, Theater der Welt, © Kerstin Behrendt

Die begehbare Installation beginnt an der scharf bewachten Außengrenze Europas, das als bedrohliche Festung in Erscheinung tritt: Maschendrahtzäune, mit Stacheldraht versehen, bilden ein klaustrophobisch enges, verwirrendes Labyrinth in einer dunklen, ehemaligen Lagerhalle im Oberhafenquartier: Überall sind Hinweise auf Videoüberwachung angebracht, ebenso Ermahnungen, langsam zu gehen. Beim Eingang in Sanctuary, dieses Heiligtum Europa, weisen Piktogramme darauf hin, dass der Gebrauch von Twitter und Telefonen ebenso untersagt sei wie Vollverschleierung oder das Tragen von Säbeln. Zunächst wird man in einem Wartesaal bugsiert, in dem pittoreske, farbgesättigte Ansichten von Alpenidyll in Österreich, Schloss Neuschwanstein, Paris, oder den sanften Hügeln der Toskana Europa als traumhaft schönen Urlaubsort in Szene setzen. Daraufhin wird man entlassen in die verwirrenden Gänge und wird konfrontiert mit Bildern, die in krassem Gegensatz dazu stehen. Der Parcours soll Situationen des Unbehagens, der Betretenheit kreieren und tut es auch, vor allem durch die Intimität der gezeigten Szenen. Die Zuschauer*innen gehen in Kleingruppen von Bild zu Bild: Minutenlang verharrt man vor einer Szene und starrt aus nächster Nähe auf einen ausgestellten Menschen. Es sind hochartifizielle Schaufenster-Situationen, die den Besucher*innen einen voyeuristischen Blick aufzwingen.

Unser Blick ruht beispielsweise auf einem geflüchteten Fotografen, der in Syrien für Kriegsreporter*innen übersetzte, ihnen half, Bilder zu schießen, die um die Welt gehen sollten, die aufrütteln sollten. Diese Botschaft steht in  Druckschrift mit Filzstift auf Pappkartons geschrieben, die der Mann dem Publikum entgegenstreckt. Nun sitzt er im ‚Dschungel‘ von Calais fest, kauert alleingelassen, umgeben von Müllbergen in diesem waste land in jeder Hinsicht. Er fühlt sich nicht gebraucht, nicht gewollt, aufgegeben, ja: benutzt von den Journalist*innen, die er durch die Kriegssituation in Syrien be- und geleitet hat: Sie hätten nie ihn gesehen, nur die spektakulären Motive, die sie durch ihn erbeuteten. Anders als alle anderen Charaktere in dieser Anordnung, geht sein Blick starr ins Leere: Er könne ihnen, den Journalist*innen, nicht mehr in die Augen schauen. Am Ende der Szene nimmt er seine Kamera, dreht mit vertrauten Handbewegungen am Objektiv, hält sie vor sich in die Höhe, und drückt ab. Anstatt eines leichten Knipsens der Kamera hört man lauten Bombendonner. Dann leuchtet ein grünes Licht auf. Es ist das Zeichen weiterzugehen. Auf geht es zum nächsten Tableau.

Foto: Brett Bailey: Sanctuary, Theater der Welt, © Kerstin Behrendt

Eine Frau sitzt kaum bekleidet auf einem Hocker, sie sieht erschöpft aus. Neben ihr steht ein Fernseher, auf dessen Bildschirm Bilder von Bombenhagel flimmern. Schließlich wird ihre Geschichte in knappen Sätzen aus der Ich-Perspektive eingeblendet: Sie muss sich prostituieren, um das nötige Geld zusammenzusparen, um ihre Familie nachholen zu können. Grünes Licht, aber nur für uns, die zuschauen. Die Figur bleibt gefangen in der Szene, beginnt wie Sisyphus von vorne für die nächste nachrückende Gruppe von Besucher*innen.

Foto: Brett Bailey: Sanctuary, Theater der Welt, © Kerstin Behrendt

Gemeinsam ist all diesen in Szene gesetzten Räumen, die Bailey zusammen mit Geflüchteten, Immigrant*innen und Aktivist*innen kreiiert hat, dass sie Situationen tiefen Unbehagens generieren. Dem Publikum wird der voyeuristischer Blick aufgezwungen. Aber die fiktiven Charaktere, die diese geschaffenen Szenen bewohnen, blicken zurück. Ihre Blicke zwingen uns dazu, sie anzusehen, ihnen in die Augen zu blicken. Sie wenden den Blick nicht ab, starren einen stumm an, bis man die Augen abwendet. Keine dieser Figuren spricht. Hat es ihnen die Stimme verschlagen? Hat man ihnen die Sprache genommen? Was sie zu sagen haben, wird über verschiedene Wege als Text transportiert, sei durch beschriebene Kartons oder als Einblendung auf Tabletbildschirmen, in dem die Erlebnisse der Flucht, Erfahrungen des Wartens oder des versuchten Neuanfangs in Europa festhalten werden. Dass die ausgestellten Figuren fiktiv sind, dass die Darsteller*innen nicht ihre eigene Biographie verkörpern, ist eine richtige Entscheidung. Sie schafft Distanz, die Not tut und verhindert, dass die Figuren – und die Menschen, die sie verkörpern – ihrer Würde gänzlich beraubt werden.

„The performers of SANCTUARY are refugees, immigrants, interpreters, engaged citizens and activists. The have developed characters to inhabit scenes that I desicned, to give poetic shape tot he states of limbo, fear and uncertainty in which so many find themselves in the EU today.“[2]

Brett Baileys Arbeiten, die seit Jahren um die Themen Flucht und Migration, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus kreisen, bieten definitiv Stoff für Diskussionen. Arbeiten wie Exhibit B, die sich mit Kolonialismus, dem Völkermord an den Herero und Nama im heutigen Namibia beschäftigt, um gegenwärtigen Rassismus zu thematisieren, spalten die Meinungen. So erntete Exhibit B großes Lob für eine „unerträgliche, aber notwendige“ Auseinandersetzung mit kolonialer Gewalt und Rassismus. Gleichzeitig entzündete sich daran heftige Kritik, auch in Deutschland: Die Installation reproduziere kolonial-rassistische Denkmuster und degradiere die Darsteller*innen zu Opfern, die ihrer Stimme beraubt seien, so der Vorwurf an den weissen Künstler, Autor und Regisseur aus Südafrika.

Baileys jüngste Arbeit Sanctuary steht ästhetisch in derselben Traditionslinie: Die begehbare Installation stellt Situationen von Geflüchteten aus und liefert sowohl künstlerisch als auch in Hinblick auf die Frage, wie Europa mit Geflüchteten umgeht, Ansatzpunkte für Diskussionen. Menschen berühren – im Positiven wie im Negativen –, Reaktionen hervorrufen und Diskussionen anregen, das ist, was Theater im besten Fall leisten kann und soll. Das hat sich „Theater der Welt“ nicht zu Unrecht auf die Fahnen geschrieben und eingelöst. Und das ist auch gut so.

 

Die Installation ist im Rahmen von „Theater der Welt“ noch bis Samstag den 10. Juni zu sehen. Die Möglichkeit über diese Installation und die Themen, die sie aufgreift, zu diskutieren gibt es in einer Podiumsdiskussion mit Brett Bailey und dem Ensemble von Sanctuary, am 10.6.2017.

 

[1] Künstlerstatement Brett Bailey, Abendzettel „Sanctuary“, Theater der Welt.

[2] Künstlerstatement Brett Bailey, Abendzettel „Sanctuary“, Theater der Welt.