Von Tania Mancheno (Universität Hamburg)

Am Abend des 5. Juni 2017 war ich auf Kampnagel. Das Programm von Theater der Welt kündigte für den Abend Bruno Beltrãos Produktion mit dem Titel New Creation an. Auf Kampnagel, einer ehemalige Maschinenfabrik in Barmbek (eines der ältesten Arbeiterviertel Hamburgs) und mittlerweile Deutschlands größte freie Spiel- und Produktionsstätte, waren drei Aufführungen der brasilianischen urbanen Tanzproduktion zu sehen.

Am Abend darauf war ich in der Elbphilharmonie. Im neuen „Tempel der Hochkultur“, welcher über einem ehemaligen Kakaospeicher gebaut wurde, war die katalanische bombastische Inszenierung von Joseph Haydns (1732–1809) Die Schöpfung angekündigt. Im Gesamtprogramm des Festivals wird einige Seiten nach der Beschreibung von Beltrãos Produktion der Abend in der Elbphilharmonie folgendermaßen beschrieben: „Die wohl spektakulärste Theatergruppe der Welt kommt in das derzeitig wohl spektakulärste Konzerthauswunder der Welt.“ In der mit Superlativen angepriesenen Produktion Die Schöpfung von La Fura dels Baus performte eine Menge von weißen Sängerinnen und einem Sänger, die auch als Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Bühne waren, auf welche die verschiedensten Animationen und Videos permanent projiziert wurden.

Zusammen betrachtet konnte ich zwei eindrucksvolle theatralische Aufführungen erleben, die zwar aus geradezu entgegengesetzten Dramaturgien und Ästhetiken entstanden sind, jedoch eine vergleichbare Entstehungsgeschichte hinsichtlich der jeweiligen Ensembles aufweisen: Sowohl für die Entstehung von Bruno Beltrãos Arbeit mit Grupo de Rua, als auch für La Fura dels Baus diente als erste Bühne die Straße. In beiden Fällen fing die Arbeit auf dieselbe Weise an: Es waren die Stadt und die öffentlichen Räume, die als Bühne für die jeweiligen urbanen Theaterproduktionen dienten. Auch bezüglich der verhandelten Themen sind die Produktionen vergleichbar: Die Migration spielt in beiden Aufführungen eine zentrale Rolle.

Wie funktioniert irreguläre Grenzüberschreitung? Mit dieser Fragestellung beschreibt „Theater der Welt“ Beltrãos New Creation, wobei anstatt irregulär das unangemessene Adjektiv ‚illegal‘ benutzt wird. Einen Tag vor der Premiere entschied sich Beltrão jedoch für eine Umbenennung der Produktion in INOAH. In der sehr bewegenden und praktisch musiklosen Choreographie kommen Schwarze Körper zum Einsatz. Diese Körper erzählten Geschichten von Widerständen, von immer wieder entstehender Kreativität, sowie von transnationalen Kommunikationsformen. Fast zwei Stunden fanden auf der Bühne verschiedene Dialoge, Kämpfe und Aushandlungsprozesse für die Bewegungsfreiheit statt.

Foto: Bruno Beltrao: INOAH (New Creation), © Kerstin Behrendt

Für diejenigen Menschen, die selbst Migrationserfahrungen haben und Identitätskontrollen kennen, ist es nicht einfach, der Tanzaufführung Inoah gedankenlos zu folgen. Die Bewegungen, die an Polizei-, Zoll-, Fluggesellschafts- und Grenzkontrollen erinnerten, vermischten sich mit Bewegungen des Entkommens, des Wegrennens, des Überlebens. Die Assoziationen, die durch die Choreographie zum Thema Migration hervorgerufen werden, berührten extrem intime Erfahrungen, in denen die eigene Existenz kontrolliert und authentifiziert wird. Die Körperbewegungen wurden dabei von einem ausschließlich männlichen Ensemble ausgeführt.

Die Schöpfung behandelt das Thema Migration aus einer ganz anderen Perspektive. Hier kommen zwar auch zahlreiche Körper auf der Bühne in Einsatz. Aber nicht nur. La Fura dels Baus bietet eine Interpretation der alttestamentarischen Schöpfungsgeschichte (im Buch Genesis und den Psalmen) in die gottlose und technische Gegenwart. Nach eigener Beschreibung von La Fura del Baus im Programmheft sollte ein Bezug zum Teilchenbeschleuniger CERN zur szenischen Interpretation von Haydns Oratorium in unseren post-säkularen Zeiten dienen.

Auch in Die Schöpfung geht es um die irreguläre Überschreitung von Grenzen. Das religiöse Motiv der sexistisch geprägten „Erbsünde“ aus der Bibel wurde in der Inszenierung einer erneuten gewaltvollen Interpretation unterzogen: Der Bezug zur Vertreibung von Eva und Adam aus dem Garten Eden wird „durch die permanente Anwesenheit von Geflüchteten, die aus ihrem Paradies (sic!) durch Krieg oder Naturkatastrophen, aus wirtschaftlichen, politischen oder religiösen Gründen vertrieben wurden“ hergestellt.

Die musikalische Komposition für die 105-minütige Aufführung wurde von der französischen Dirigentin Laurence Equilbey gestaltet. Eindrucksvolle Stimmen füllten den durchaus beeindruckenden großen Saal der Elbphilharmonie. Equilbeys gut eingespieltes Insula Orchestra begleitete die Entwicklung von den sieben Tagen der Schöpfung auf einer kleinen Bühne mit viel zu viel Bühnenmaterial und riesigen weißen Stoffkulissen, worauf die unterschiedlichsten an Bildschirmschoner erinnernden Projektionen, zusammengewürfelte Wörter und Körperteile projiziert wurden. Riesige weiße Luftballons kamen auch zum Einsatz.

Die weißen Körper, welche die Geflüchteten darstellen sollen, sind mit einer bestimmten Art von Kostümen gekleidet, die stark auf traditionelle nordafrikanische männliche und weibliche Mode verweisen. Als Teil des Kostüms war es wohl notwendig, die Gesichter von dieser großen Menge von namenlosen Chorsängerinnen und -sängern, die gleichzeitig als Schauspielerinnen und Schauspieler dienten, partiell schwarz zu bemalen, um sicher zu gehen, dass Sie vom Publikum als „arme Leute“ gelesen werden. Eine klare Abgrenzung von den rassistischen Theaterpraxen des Blackfacing ist hier nicht festzustellen.

Die Beschreibung der Inszenierung im Programmheft besagt weiter: „Während ihres Exodus werden die Geflüchteten von drei Wesen geleitet, die im Libretto eine herausgehobene Rolle spielen: Raphael, dem Geist des Wassers und der Gesundheit; Uriel, dem Geist des Lichts und des Wandels; Gabriel, dem Geist der Luft und der Kommunikation.“

Der Kran mitten auf der Bühne der Elbphilharmonie trug die Solisten nach oben und wieder nach unten als eine Art Flugmaschinerie, die gleichzeitig auch die Mächtigkeit und Transzendenz der mythologischen Figuren darstellen sollte. Ein riesiger Kran mitten auf der Bühne eines der teuersten Musiksäle der Welt, der nur durch ausreichend manpower bewegt werden konnte. Ein Kran, der mich übrigens sehr an die Kräne in der HafenCity erinnert, welche einst auf Kampnagel gefertigt und aus Barmbek in die neuen Stadtteile mitgebracht wurden, und sie vor Ort als urbane Kunststücke auszustellen.

Beurteilt vom Applaus am Ende der Inszenierung war das Publikum allgemein glücklich mit dem Abend. Eine Dirigentin ist in unseren Zeiten noch eine positive Überraschung, da das Metier noch sehr männlich konnotiert ist. Auch die Benutzung des Begriffes „Geflüchtete“ anstatt Flüchtlinge im Programmheft war eine weitere positive Überraschung.

Jedoch wie La Fura dels Baus von Haydns Meisterwerk Die Schöpfung zu den migrierenden Menschen zwischen Religion und Technik gelangte, bleibt für mich fragwürdig. Die Ergänzung von Adam und Eva durch die Geflüchteten erinnerte mich unmittelbar an die Thalia Produktion von Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen, die aufgrund des schamlosen und rassistisch geprägten Paternalismus stark kritisiert wurde.[1]

Die Projektion von Begriffen und Sätzen, welche die komplizierte Inszenierung zwischen Oper, Theater, Animation und Musikorchester begleiteten, erinnerte stark an eine sehr dünne Form der Philosophie und wirkte zum Teil grotesk: „The philosopher met the girl, but the girl represented wisdom“. „Time“, „Space“, „Possibilites“ , etc. Einige Rechtschreibfehler und zum Teil unkoordinierte Benutzung der eingesetzten Ipads waren weitere unangenehme Überraschungen.

Foto: La Fura dels Baus: Die Schöpfung, © Claudia Höhne

Solche Risiken in der Vermittlung des Inhaltes werden in der Tanzproduktion INAOH nicht eingegangen. Und dies obwohl Beltrão auch Videoinstallationen benutzt. In diesem Fall dient aber der Einsatz von Bildschirmen dazu, uns daran zu erinnern, dass sich das Geschehen auf der Straße zuträgt. Auf einer Straße, in der Telefon- und Elektrizitätskabel sichtbar sind. Die mit Kabeln geschmückten Straßen sind meistens in der sogenannten südliche Hemisphäre der Erde zu sehen. Dazu waren Vögel, das Vergehen der Tageslichter und die hintere Seite des berühmten Denkmals des Cristo Redentor, „Christus der Erlöser“, in Rio de Janeiro  zu sehen. Wie in Quito die monumentale Statue der Heilige von Quito. Auch in Rio stärkt Cristo den armen Nachbarschaften der Stadt den Rücken. So lokalisierte uns Beltrão unmittelbar in den Favelas von Rio, die nach einer kritischen Lektüre des Stadtraumes in der Tradition von Reservate für Aborigines und Asylbewerber- und Asylbewerberinnenheimzonen zu verstehen sind.[2] Eine solche Bühnenarbeit sollte uns Zuschauerinnen und Zuschauer daran erinnern, dass die größte Anzahl an Migrationen immer noch aus der sogenannten südlichen Hemisphäre der Welt stattfindet. Und dass Grenzkontrollen sich auch innerhalb den „Toren der Stadt“ befinden.

Ein letzter Vergleichspunkt zwischen INOAH und Die Schöpfung besteht darin, dass beide Stücke auf abgedunkelten Bühnen stattfanden. In Beltrãos Kreation scheint mir dies der Fall zu sein, weil gerade die Grenzüberschreitungen vor allem in der Nacht stattfinden. Deshalb sterben so viele Menschen auf der Flucht. Auch aus diesem Grund finden Abschiebungen in der Nacht oder bei der Morgendämmerung statt. Wie Hannah Arendt in ihrem berühmten Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955) bereits beschrieb, ist sich die Polizei bewusst, dass bei der Abschiebung von Menschen, sie die „Grenze der Illegalität“ überschreitet.[3]

Wenn die Geflüchteten in Die Schöpfung sangen, konnte man deren Gesichter nicht identifizieren. Die Ipads, welche einige der dargestellten Geflüchteten während fast der ganzen Vorstellung als Requisit mit sich trugen, erinnerten an dramatische Bilder vom Mittelmeer, wo einzig das Leuchten der Handydisplays den geflüchteten Menschen auf Booten die Hoffnung des Ankommens oder des Gefundenwerdens nährte. In der Inszenierung wurden Ipads für die Darstellung von Feuer, als Gefäße zum Trinken, und auch als Notenblatt für den Chor verwendet.

Handelt es sich bei Die Schöpfung von La Fura dels Baus um eine Wiederholung von dramatischen Bildern und sprachlose Stereotypen? Oder geht es hier um einen neuen Anfang der westlichen Gesellschaften? In Die Schöpfung (wie übrigens auch bei Die Schutzbefohlenen) werden die Schicksale von Menschen in der aktuellen Lage der Welt instrumentalisiert, um daraus eine Inszenierung der Überlegenheit der Westlichen Willkommenskultur zu formen. Für mich war die Inszenierung das Ergebnis einer grotesken Gegenüberstellung: Die Gegenüberstellung von dem Bild der Armut repräsentiert bei den schauspielten hungrigen und dreckigen Flüchtlingen gegen das Bild des Reichtums, welches die Elbphilharmonie repräsentiert. Das Singen des Amens und Hallelujas bei den gespielten Geflüchteten war meiner Einschätzung nach auch grotesk. Versucht La Fura dels Baus dadurch zu schockieren oder eher zu mokieren? Mir wurde es nicht klar. Dagegen präsentierte INOAH eine minimalistische Form der persönlichen Erzählung auf einer Bühne, die einen viel nachhaltigeren Eindruck der die Ausdrucksformen von Migration bei mir hinterlassen hat.

 

 

[1] Für gute Kritiken zu der Thalia Produktion von Nicolas Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen“, die 2014 bei der Mannheimer Ausgabe von „Theater der Welt“ Premiere hatte und seit September im Repertoire des Hamburger Thalia Theaters läuft, siehe Bahareh Sharifis Artikel: Theater, Rassismus und ökonomische Strukturen, welches eine sehr gute Kontextualisierung der Kämpfe gegen rassistische Praxen des Theaters von Seiten der Schwarzen Bewegungen in Deutschland gibt.  (http://maedchenmannschaft.net/theater-rassismus-und-oekonomische-strukturen/).

Siehe auch Mathias Dells Kritik Unser Problem, veröffentlicht in Theater der Zeit, in der er zutreffend formuliert, dass das deutsche Theaterpublikum zwar weiß, dass Blackfacing nicht mehr geht, „schmiert sich aber immer noch schwarze Schminke ins Gesicht” (http://www.theaterderzeit.de/2014/10/extra/31843/).

[2] Siehe Mike Davis 2006: Planeta Favela.

[3] Für eine Analyse von Arendts Beschreibungen von Abschiebungspraxen siehe mein Paper: Between Nomos and Natality. Hannah Arendt on the „stateless“-condition

http://www.hannaharendt.net/index.php/han/article/view/347