Als bedeutender Marinestützpunkt ist Wilhelmshaven einer der Orte Deutschlands mit den offensichtlichsten Verbindungen zum Kolonialismus. Die Stadt war Standort verschiedener Einheiten, die sich an den teils genozidalen deutschen Kolonialkriegen beteiligten, für zahlreiche weitere Truppen, die beispielsweise nach China oder ins heutige Namibia fuhren, war der Hafen Einschiffungsort.[1]

Diese Verbindung liegt allerdings nicht nur in der Vergangenheit: Verschiedene Kolonialdenkmäler sind präsent im öffentlichen Raum. Als „Freilichtmuseum des deutschen Imperialismus“ bezeichnet die taz Wilhelmshaven daher – und konsequenterweise etablierte sich in den letzten Jahren ein „Runder Tisch Kolonisierung/Dekolonisierung“ in der Stadt.[2]

Aber schon deutlich länger ist die Aufarbeitung des kolonialen Erbes in bestimmten Fällen Thema, wie die Christus- und Garnisonskirche zeigt: An ihren Innenwänden befinden sich zahlreiche Tafeln zum Gedenken an gefallene deutsche Soldaten, unter anderem aus dem Krieg gegen Herero und Nama im heutigen Namibia 1904-1908. Im Jahr 2005 beschloss die Gemeinde, dass den mindestens indirekt am Genozid Beteiligten nicht mehr unkommentiert gedacht werden sollte. Daher erfolgte die Installation einer Gedenktafel aus Plexiglas vor der älteren Marmortafel. Mit einem Foto von Gefangenen, ausgeschnitten in Form des Staatsgebiets Namibias, sowie einem Zitat wird der Opfer auf Seiten der Herero und Nama gedacht:

„Wenn sie an einen Sandbrunnen kamen, und es gab Wasser, dann tranken die Krieger. Die Frauen tranken nicht, damit die Krieger Kraft hätten zu kämpfen. Und wenn sie Hunger hatten, sagten die Männer zu den Frauen: ‚Das Kind kann ruhig sterben. Ich muss aus deiner Brust die Milch saugen, denn ich kann nicht anders, damit ich kämpfen kann.‘“

Über die Wahl von Bild und Zitat – den Herero zugeschrieben [3] – ließe sich eine eigene Diskussion führen: Macht die Formulierung den deutschen Genozid durch Verdursten eindrücklich, oder lässt sie die Herero als erbarmungslos gegenüber ihren eigenen Familien erscheinen? Ist es angesichts der Debatten um Zurschaustellung von Menschen und der ‚colonial gaze‘ sinnvoll, Gefangene abzubilden, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht selbst entscheiden konnten, ob sie fotografiert werden wollen? Ist eine abstrakt-künstlerische Differenzierung sinnvoll, die bei einem zufälligen Kirchenbesuch kontextlos erscheinen könnte?[4] Angesichts der sehr konkreten Form der Erinnerung auf der älteren Tafel – die Gefallenen werden mit Rang und Namen erwähnt – wäre beispielsweise auch eine ausdrückliche Nennung der Verhältnismäßigkeiten denkbar: Verglichen mit einigen hundert gefallenen deutschen Soldaten starben Zehntausende Herero und Nama.[5]

Trotz dieser offenen Fragen bleibt festzuhalten, dass die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit durch die Kirchengemeinde zu Beginn der 2000er-Jahre für sich bemerkenswert ist. Zwar gab es seit den 1960er Jahren in Deutschland verschiedene Initiativen zur Dekolonisierung des öffentlichen Raums wie etwa den Sturz der Denkmäler von Hermann von Wissmann und Hans Dominik in Hamburg oder die Umwidmung des Bremer (Anti-)Kolonialdenkmals.[6] Gerade in Kirchen, beliebter Standort für Gedenktafeln, sind ansonsten jedoch erhebliche Beharrungskräfte zu beobachten. Die in der Form sehr ähnliche Gedenktafel für Hamburger Gefallene der Kolonialkriege „in China“ und „in Afrika“ in St. Michaelis sieht derzeit praktisch genauso aus wie bei ihrer Einweihung 1913, also ohne jegliche bauliche Kontextualisierung. Der Versuch der Kontextualisierung durch Bilder der kolonialen Verbrechen , aufgestellt 2012, wurde etwa laut Auskunft eines der Initiatoren, Israel Kaunatjike, einige Jahre später ohne Rücksprache wieder entfernt.[7]

Das gilt allerdings in Wilhelmshaven genauso für die übrigen Gedenktafeln aus kolonialen Kontexten. Bei der Erinnerung an die Opfer von zwei Schiffsunglücken (‚Augusta‘ 1885 und ‚Iltis‘ 1896) ist der koloniale Bezug nicht offensichtlich. Doch schon die Untergangsorte Golf von Aden bzw. Shuntung an der chinesischen Küste verdeutlichen, dass die Unglücke im Zusammenhang mit dem globalen Ausgreifen der Marine des Kaiserreichs standen. Passenderweise benannten die deutschen Kolonialbehörden auch eine Bucht in Kiautschou nach dem untergegangenen Schiff.[8] Ebenfalls nur mit Hintergrundwissen lassen sich einzelne Gefallene aus den 1880er Jahren konkreten Konflikten zuordnen.

In weiteren Fällen ist die koloniale Verbindung offensichtlich, so etwa bei den drei bzw. vier Soldaten, die während des „Aufstands auf Ponape“ 1911 bzw. in Ostafrika 1905-07 starben. Die Formulierung macht hier schon deutlich, dass der antikoloniale Widerstand, nicht die Kolonisierung an sich, als illegitime Gewalt gelten sollte. Dem entgegen wird die Niederschlagung des oft als ‚Boxeraufstand‘ bezeichneten Kriegs auf einer weiteren Tafel nur euphemistisch als „Expedition nach China“ tituliert.[9] Dass in diesen Fällen keine Kontextualisierung erfolgt, kann jedoch wenig überraschen: Keines dieser kolonialen Verbrechen ist in vergleichbarem Ausmaß im deutschen öffentlichen Bewusstsein wie der Genozid in Namibia, trotz ihrer teils immensen Opferzahlen.[10] Fast schon konsequent ist es daher, dass in einem Nebenraum der Kirche mit frischen Kränzen der deutschen Gefallenen allgemein gedacht wird – ohne Auseinandersetzung mit der deutschen Gewaltgeschichte vom Kolonialismus zum Nationalsozialismus.

Die wohl bemerkenswertesten Fälle für koloniale Verbindungen finden sich allerdings außerhalb der Kirche. Das sind nicht unbedingt die weiteren Beispiele kaiserzeitlicher Denkmäler im Stadtgebiet, sondern die wenige Jahre alten mit einem auf den ersten Blick unscheinbaren Zusammenhang: Direkt gegenüber des Hauptbahnhofs befindet sich ein Adler, gestiftet von der Stadt Qingdao 1998 anlässlich der sechs Jahre zuvor begonnenen Städtepartnerschaft. Eine Erwähnung der kolonialen Geschichte dieser Verbindung erfolgt hier in keiner Weise, dabei war Qingdao unter der Schreibweise Tsingtau Hauptstadt des deutschen ‚Pachtgebiets Kiautschou‘. Auf Wunsch welcher Seite die koloniale Verbindung nicht erwähnt wurde, geht aus dem Denkmal nicht hervor, aber das Ergebnis ist unabhängig davon das gleiche – die Städtepartnerschaft erscheint im öffentlichen Raum ohne diesen zentralen Hintergrund.

Ebenfalls ohne jede Bezugnahme auf den Kolonialismus aufgestellt wurde das Bismarck-Denkmal auf dem gleichnamigen Platz. Die Statue, 2015 auf private Initiative eines ehemaligen CDU-Stadtrats gestiftet, steht an der Stelle einer 1905 errichteten und im Zweiten Weltkrieg verlorenen Vorgängerin.[11] Im Jahr 2015 hatte die Debatte um Deutschlands koloniale Vergangenheit bereits Fahrt aufgenommen. Konkret Bismarcks Rolle nicht nur bezüglich der territorialen Ansprüche, sondern auch der Berliner Afrika-Konferenz hätten also durchaus als schlagende Argumente gegen eine Aufstellung dienen können.[12] Kritik am „Antidemokraten“ Bismarck durch einen Grünen Ratsherren und diverse weitere Gegner reichte allerdings auch nicht aus.[13] Ähnlich wie in Hamburg, wo seit Jahren intensiv über die kostspielige Renovierung der Kolossalstatue für Bismarck im Alten Elbpark diskutiert wird, muss auch diese Statue als Teil der jahrzehntelangen kolonialen Amnesie verstanden werden. Ursprünglich jeweils zeitgenössisch zum deutschen Kolonialismus errichtet, schien dieses Element im Bismarckbild selbst in der kritischen Berichterstattung zeitweise verloren.[14]

Das Bismarck-Denkmal als Gegenpol zur kontextualisierenden Tafel in der Christuskirche verdeutlicht somit das Spannungsfeld in der Aufarbeitung des kolonialen Erbes in Wilhelmshafen. Einerseits die Glorifizierung des De-Facto-Gründers des deutschen Kolonialreichs, andererseits die vergleichsweise frühe kritische Auseinandersetzung in der Christuskirche – die Hafenstadt wird sich noch länger damit befassen müssen, welche Formen des Umgangs mit der Vergangenheit angemessen sind.

Julian zur Lage


[1] Siehe für die Bedeutung Wilhelmshavens für Truppentransporte für den Genozid: Jan Kawlath: Der Baakenhafen. Inszenierungsort für Vorstellungen von Deutschland als Kolonialmacht, in: Jürgen Zimmerer/Kim Sebastian Todzi (Hrsg.): Hamburg: Tor zur kolonialen Welt. Erinnerungsorte der (post-)kolonialen Globalisierung, Göttingen 2021, 67–81, hier 69-74.

[2] Benno Schirrmeister: Wilhelmshavens Last der Vergangenheit: Kolonialer Alptraum, in: taz. die tageszeitung, 3.4.2022, online unter:  https://taz.de/Wilhelmshavens-Last-der-Vergangenheit/!5844372/ (zuletzt aufgerufen am 2.11.2022).

[3] Ein konkreter Nachweis des Zitats ist nicht angegeben. Siehe zu einer kritischen Einordnung von Darstellungen des Säugens von Männern statt Kindern: Katharina von Hammerstein: “Who Owns Hereroland?”. Diverse Women’s Perspectives on Violence in the German-Herero Colonial War. In: Katharina von Hammerstein, Barbara Kosta und Julie Shoults (Hg.): Women Writing War. From German Colonialism through World War I. Berlin/Boston 2018, 27–56, hier 49.

[4] Zur gezielten Verfremdung von Fotos aus dem Genozid anhand der Arbeit der Namibischen Künstlerin Vitjitua Ndjiharine: Julia Rensing: ‘‘Ovizire · Somgu: From Where Do We Speak?’: Artistic Interventions in the Namibian Colonial Archive (2018–2020)’, Journal of Southern African Studies, 48/1 (2022), 81–102, hier 85. Zum Hintergrund des Projekts: Julian zur Lage: ‚Koloniale Fotografien aus Deutsch-Südwestafrika‘ – L.I.S.A.-Videoreihe zum Projekt der Forschungsstelle, 12.6.2019, online unter:  https://kolonialismus.blogs.uni-hamburg.de/2019/06/12/koloniale-fotografien-aus-deutsch-suedwestafrika-l-i-s-a-videoreihe-zum-projekt-der-forschungsstelle/ (zuletzt aufgerufen am 2.11.2022).

[5] Die offiziellen deutschen Angaben belaufen sich auf je ca. 600-700 durch direkte Kampfeinwirkung bzw. durch Krankheiten gestorbene Soldaten. Die Gesamtzahl der Opfer unter Herero und Nama werde in der Regel im Bereich 60 000 bis 80 000 vermutet, so Isabel V. Hull: Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany, Ithaca 2005, 88-90.

[6] Zu Wissmann: Melanie Boieck; Reginald Elias Kirey: »Kolonialheroen« in deutscher, tansanischer und britischer Erinnerungskultur. Wissmann-Denkmal und »Askari«-Monument. Das Beispiel des Wissmann-Denkmals und des ›Askari‹-Monuments in Hamburg beziehungsweise Dar es Salaam, in: Jürgen Zimmerer/Kim Sebastian Todzi (Hrsg.): Hamburg: Tor zur kolonialen Welt. Erinnerungsorte der (post-)kolonialen Globalisierung, Göttingen 2021, 517–530, Zu Dominik: Ndzodo Awono: Hans Dominik. Kolonialheld oder -verbrecher?, in: Ebd., 463–475. Zum Antikolonialdenkmal: Joachim Zeller: Kolonialdenkmäler und Geschichtsbewußtsein. Eine Untersuchung der kolonialdeutschen Erinnerungskultur, Frankfurt a. M. 2000, 221-225.

[7] Telefonische Auskunft von Israel Kaunatjike am 11.9.2019.

[8] o. A.: Iltisbucht, in: Heinrich Schnee (Hrsg.): Deutsches Kolonial-Lexikon, Leipzig 1920, Bd. 2, 90.

[9] Siehe dazu die Abbildungen.

[10] Für eine sechsstellige Zahl von Opfern unter der Bevölkerung im Maji-Maji-Krieg siehe Felicitas Becker/Jigal Beez: Ein nahezu vergessener Krieg. Vorwort, in: Felicitas Becker/Jigal Beez (Hrsg.): Der Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika. 1905 – 1907, Berlin 2005, 11–13.

[11] Pressearchiv der Stadt Wilhelmshaven: Enthüllung des Otto-von-Bismarck-Denkmals, 24.4.2015, online unter: https://www.wilhelmshaven.de/Pressearchiv/24214-Enth%C3%BCllung-des-Otto-von-Bismarck-Denkmals.html (zuletzt aufgerufen am 2.11.2022).

[12] Aus dem gleichen Jahr z.B.: Jürgen Zimmerer: Bismarck und der Kolonialismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 65 (2015), 33–38.

[13] Hans-Christian Wöste: Neues Bismarck-Denkmal provoziert, in: Hannoversche Allgemeine, 24.4.2015, online unter: https://www.haz.de/der-norden/neues-bismarck-denkmal-provoziert-YG4EFJV3ET4SZZZ3BYJOB6ZQMI.html (zuletzt aufgerufen am 2.11.2022).

[14] Siehe den obigen Medienbeitrag. Zum Hamburger Denkmal und der Debatte allgemein: Jürgen Zimmerer/Kim Sebastian Todzi: Bismarck in Hamburg: Deutschlands höchstes Kolonialdenkmal, 26.11.2021, online unter: https://kolonialismus.blogs.uni-hamburg.de/2021/11/26/bismarck-in-hamburg-deutschlands-hoechstes-kolonialdenkmal/ (zuletzt aufgerufen am 2.11.2022); Jürgen Zimmerer u.a.: Gesprächsreihe „Bismarck: Lokaler Held, globaler Schurke? Ambivalenzen eines (nationalen) Helden“, online unter: https://kolonialismus.blogs.uni-hamburg.de/category/bismarck-global/ (zuletzt aufgerufen am 2.11.2022).